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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Voraussetzungslos
Gin ehrliches Wort zum "Falle spähn"

el dem Streite über die Berufung des katholischen Historikers
Spahn an die Universität Straßburg ist in dem Proteste Theodor
Mommsens und in den Zustinimnngserklärungen, die ihm von
einigen Universitäten zugegangen sind, mit Nachdruck von der
"Voraussetzungslosigkeit" der Wissenschaft geredet morden. Gegen
die Gleichsetzung dieses Begriffs mit "Wahrhaftigkeit," die Mommsen selbst in
einer zweiten Erklärung allerdings abgeschwächt hat, hat schon in Ur. 48 der
Grenzboten eine berufne Stimme Einspruch erhoben. Aber es lohnt sich doch
noch, der Frage etwas naher zu treten: Giebt es überhaupt eine vorcius-
setznngslvse Wissenschaft?

Die Antwort ist kurz und rund: Nein, denn es giebt keine voraus¬
setzungslosen Menschen. Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit, er lebt in und
von einer bestimmten geistigen Atmosphäre, er saugt aus ihr seiue Anschauungen;
nur dem Genie ist es erlaubt, sich bis zu einem gewissen Grade von ihr zu
befreien, neue Bahnen zu finden und zu weise", die in eine neue, andre
Lebenslust hinüberführen, aber von der, die es zunächst umgiebt, geht auch
das Genie aus. So sind alle politischen und sozialen Theorien, sie mögen
von noch so abstrakten, "voraussetzungslosen," aphoristischen Sätzen auszugehn
scheinen, thatsächlich doch nichts als die theoretischen Niederschläge der poli¬
tischen und sozialen Entwicklung ihrer Zeit, als Folgeruuge" aus ihr oder als
Bekämpfung. Wenn Plato, gewiß ein genialer Mensch, in seinem "Staat"
die Philosophen, d. h. die Denkenden, zur Herrschaft beruft, also einer Gcistcs-
nristokratie die Leitung übergeben will oder auch einem "philosophischen" Mou-
"reden, so erscheint das als eine ganz abstrakte Folgerung aus seiner Jdeen-
lehre, denn es fand in den Zuständen der griechischen Welt kein Analogon,
und doch ist dieses Ideal ebenso sehr aus den eignen Erfahrungen, dem Wider¬
spruch des geistvollen Mannes gegen die zügellose und unfähige Demokratie
seiner Vaterstadt Athen entstanden, und er hat mit seinem "Staat" die römische
Hierarchie, den modernen Beamtenstaat und das absolute Königtum der Auf-


Krenzbote" !V IN01 l!S


Voraussetzungslos
Gin ehrliches Wort zum „Falle spähn"

el dem Streite über die Berufung des katholischen Historikers
Spahn an die Universität Straßburg ist in dem Proteste Theodor
Mommsens und in den Zustinimnngserklärungen, die ihm von
einigen Universitäten zugegangen sind, mit Nachdruck von der
„Voraussetzungslosigkeit" der Wissenschaft geredet morden. Gegen
die Gleichsetzung dieses Begriffs mit „Wahrhaftigkeit," die Mommsen selbst in
einer zweiten Erklärung allerdings abgeschwächt hat, hat schon in Ur. 48 der
Grenzboten eine berufne Stimme Einspruch erhoben. Aber es lohnt sich doch
noch, der Frage etwas naher zu treten: Giebt es überhaupt eine vorcius-
setznngslvse Wissenschaft?

Die Antwort ist kurz und rund: Nein, denn es giebt keine voraus¬
setzungslosen Menschen. Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit, er lebt in und
von einer bestimmten geistigen Atmosphäre, er saugt aus ihr seiue Anschauungen;
nur dem Genie ist es erlaubt, sich bis zu einem gewissen Grade von ihr zu
befreien, neue Bahnen zu finden und zu weise», die in eine neue, andre
Lebenslust hinüberführen, aber von der, die es zunächst umgiebt, geht auch
das Genie aus. So sind alle politischen und sozialen Theorien, sie mögen
von noch so abstrakten, „voraussetzungslosen," aphoristischen Sätzen auszugehn
scheinen, thatsächlich doch nichts als die theoretischen Niederschläge der poli¬
tischen und sozialen Entwicklung ihrer Zeit, als Folgeruuge» aus ihr oder als
Bekämpfung. Wenn Plato, gewiß ein genialer Mensch, in seinem „Staat"
die Philosophen, d. h. die Denkenden, zur Herrschaft beruft, also einer Gcistcs-
nristokratie die Leitung übergeben will oder auch einem „philosophischen" Mou-
«reden, so erscheint das als eine ganz abstrakte Folgerung aus seiner Jdeen-
lehre, denn es fand in den Zuständen der griechischen Welt kein Analogon,
und doch ist dieses Ideal ebenso sehr aus den eignen Erfahrungen, dem Wider¬
spruch des geistvollen Mannes gegen die zügellose und unfähige Demokratie
seiner Vaterstadt Athen entstanden, und er hat mit seinem „Staat" die römische
Hierarchie, den modernen Beamtenstaat und das absolute Königtum der Auf-


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[0521] [Abbildung] Voraussetzungslos Gin ehrliches Wort zum „Falle spähn" el dem Streite über die Berufung des katholischen Historikers Spahn an die Universität Straßburg ist in dem Proteste Theodor Mommsens und in den Zustinimnngserklärungen, die ihm von einigen Universitäten zugegangen sind, mit Nachdruck von der „Voraussetzungslosigkeit" der Wissenschaft geredet morden. Gegen die Gleichsetzung dieses Begriffs mit „Wahrhaftigkeit," die Mommsen selbst in einer zweiten Erklärung allerdings abgeschwächt hat, hat schon in Ur. 48 der Grenzboten eine berufne Stimme Einspruch erhoben. Aber es lohnt sich doch noch, der Frage etwas naher zu treten: Giebt es überhaupt eine vorcius- setznngslvse Wissenschaft? Die Antwort ist kurz und rund: Nein, denn es giebt keine voraus¬ setzungslosen Menschen. Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit, er lebt in und von einer bestimmten geistigen Atmosphäre, er saugt aus ihr seiue Anschauungen; nur dem Genie ist es erlaubt, sich bis zu einem gewissen Grade von ihr zu befreien, neue Bahnen zu finden und zu weise», die in eine neue, andre Lebenslust hinüberführen, aber von der, die es zunächst umgiebt, geht auch das Genie aus. So sind alle politischen und sozialen Theorien, sie mögen von noch so abstrakten, „voraussetzungslosen," aphoristischen Sätzen auszugehn scheinen, thatsächlich doch nichts als die theoretischen Niederschläge der poli¬ tischen und sozialen Entwicklung ihrer Zeit, als Folgeruuge» aus ihr oder als Bekämpfung. Wenn Plato, gewiß ein genialer Mensch, in seinem „Staat" die Philosophen, d. h. die Denkenden, zur Herrschaft beruft, also einer Gcistcs- nristokratie die Leitung übergeben will oder auch einem „philosophischen" Mou- «reden, so erscheint das als eine ganz abstrakte Folgerung aus seiner Jdeen- lehre, denn es fand in den Zuständen der griechischen Welt kein Analogon, und doch ist dieses Ideal ebenso sehr aus den eignen Erfahrungen, dem Wider¬ spruch des geistvollen Mannes gegen die zügellose und unfähige Demokratie seiner Vaterstadt Athen entstanden, und er hat mit seinem „Staat" die römische Hierarchie, den modernen Beamtenstaat und das absolute Königtum der Auf- Krenzbote» !V IN01 l!S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/521>, abgerufen am 13.11.2024.