Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Handelspolitik im Jahre 1.9^

und dürfen uns nicht in einen prinzipiellen Gegensatz zu England hinein¬
setzen lassen. Wie jetzt gegen England und jede Annäherung an Eng¬
land, so hat 1863 die' öffentliche Meinung in Deutschland gegen Rußland
und die preußisch-russische Februarkonvention getobt, die der demokratische Ab¬
geordnete Waldeck damals Bismarck ins Gesicht einen "Gendarmendienst" für
Rußland nannte, und die doch eine der Voraussetzungen für die Gründung der
deutschen Einheit geworden ist. Es ist tief bedauerlich, daß es nicht möglich
gewesen ist, den Burenrepubliken zu Hilfe zu kommeu, aber die Entscheidung
darüber lag nicht in Berlin, sondern in Petersburg, deun nur Rußland konnte
England wirksam bedrohn. Das eine Wort des Zaren, er werde Herat be¬
setzen, hätte vermutlich den südafrikanischen Krieg verhindern können, aber es
ist nicht gesprochen worden.

Die Politik ist eben eine Kunst; sie läßt sich nicht nach Sympathien,
Stimmungen, Schlagwörtern und Schablonen leiten. Die Aufgabe der deutschen
Politik in der überaus schwierigen Lage, in der sich Dentschland nun einmal
befindet, muß es sein, den die Welt beherrschenden Gegensatz zwischen England
und Nußland durch das eigne Schwergewicht möglichst auszubalancieren und
den Entscheidungskampf möglichst hinauszuschieben. Vielleicht läßt er sich auch
ganz vermeiden; jedenfalls wird Dentschland das Zünglein an der Wage sein.
Wollte es sich stark nach der einen Seite neigen oder gar ihr ganz anschließen,
so würde es den Ausbruch des Weltkriegs vermutlich beschleunigen. Die Ent¬
scheidung liegt also in der That zu einem großen Teile in der Hand des
deutschen Kaisers. Eine solche Politik erfordert ebenso viel Vorsicht wie Ent¬
schlossenheit, und populär kann sie nicht sein. Aber nicht darauf kommt es
an, daß sie nach dem jeweiligen sogenannten Volkswillen, sondern daß sie
Mu Heile des Vaterlands geführt wird. 8it1u8 irave-rü 8uxröinn, Isx!




Die Handelspolitik im Jahre

uietg. mein nrvvsrs! Das gilt auch in der Handelspolitik, mehr
als anderswo. Ohne Not soll man hier nicht stören, nicht
ändern, und Wenns doch nötig wird, so behutsam und so vor¬
sichtig wie möglich; ohne schroffen Bruch mit dem, was besteht,
und ohne Sprünge ins Ungewisse. Es will fast so scheinen, als
ob diese Wahrheit, die sich dein gesunden Menschenverstand doch von selbst
aufdrängt, seit einiger Zeit nicht recht respektiert würde. Man ist etwas
reformsüchtig, und die Handelspolitik ist etwas nervös geworden. Wer aber
nervös ist, macht leicht Fehler. Das Jahr 1901 soll sehr wichtige Entschei-


Grenzboten I 1901 2
Die Handelspolitik im Jahre 1.9^

und dürfen uns nicht in einen prinzipiellen Gegensatz zu England hinein¬
setzen lassen. Wie jetzt gegen England und jede Annäherung an Eng¬
land, so hat 1863 die' öffentliche Meinung in Deutschland gegen Rußland
und die preußisch-russische Februarkonvention getobt, die der demokratische Ab¬
geordnete Waldeck damals Bismarck ins Gesicht einen „Gendarmendienst" für
Rußland nannte, und die doch eine der Voraussetzungen für die Gründung der
deutschen Einheit geworden ist. Es ist tief bedauerlich, daß es nicht möglich
gewesen ist, den Burenrepubliken zu Hilfe zu kommeu, aber die Entscheidung
darüber lag nicht in Berlin, sondern in Petersburg, deun nur Rußland konnte
England wirksam bedrohn. Das eine Wort des Zaren, er werde Herat be¬
setzen, hätte vermutlich den südafrikanischen Krieg verhindern können, aber es
ist nicht gesprochen worden.

Die Politik ist eben eine Kunst; sie läßt sich nicht nach Sympathien,
Stimmungen, Schlagwörtern und Schablonen leiten. Die Aufgabe der deutschen
Politik in der überaus schwierigen Lage, in der sich Dentschland nun einmal
befindet, muß es sein, den die Welt beherrschenden Gegensatz zwischen England
und Nußland durch das eigne Schwergewicht möglichst auszubalancieren und
den Entscheidungskampf möglichst hinauszuschieben. Vielleicht läßt er sich auch
ganz vermeiden; jedenfalls wird Dentschland das Zünglein an der Wage sein.
Wollte es sich stark nach der einen Seite neigen oder gar ihr ganz anschließen,
so würde es den Ausbruch des Weltkriegs vermutlich beschleunigen. Die Ent¬
scheidung liegt also in der That zu einem großen Teile in der Hand des
deutschen Kaisers. Eine solche Politik erfordert ebenso viel Vorsicht wie Ent¬
schlossenheit, und populär kann sie nicht sein. Aber nicht darauf kommt es
an, daß sie nach dem jeweiligen sogenannten Volkswillen, sondern daß sie
Mu Heile des Vaterlands geführt wird. 8it1u8 irave-rü 8uxröinn, Isx!




Die Handelspolitik im Jahre

uietg. mein nrvvsrs! Das gilt auch in der Handelspolitik, mehr
als anderswo. Ohne Not soll man hier nicht stören, nicht
ändern, und Wenns doch nötig wird, so behutsam und so vor¬
sichtig wie möglich; ohne schroffen Bruch mit dem, was besteht,
und ohne Sprünge ins Ungewisse. Es will fast so scheinen, als
ob diese Wahrheit, die sich dein gesunden Menschenverstand doch von selbst
aufdrängt, seit einiger Zeit nicht recht respektiert würde. Man ist etwas
reformsüchtig, und die Handelspolitik ist etwas nervös geworden. Wer aber
nervös ist, macht leicht Fehler. Das Jahr 1901 soll sehr wichtige Entschei-


Grenzboten I 1901 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233897"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Handelspolitik im Jahre 1.9^</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_20" prev="#ID_19"> und dürfen uns nicht in einen prinzipiellen Gegensatz zu England hinein¬<lb/>
setzen lassen. Wie jetzt gegen England und jede Annäherung an Eng¬<lb/>
land, so hat 1863 die' öffentliche Meinung in Deutschland gegen Rußland<lb/>
und die preußisch-russische Februarkonvention getobt, die der demokratische Ab¬<lb/>
geordnete Waldeck damals Bismarck ins Gesicht einen &#x201E;Gendarmendienst" für<lb/>
Rußland nannte, und die doch eine der Voraussetzungen für die Gründung der<lb/>
deutschen Einheit geworden ist. Es ist tief bedauerlich, daß es nicht möglich<lb/>
gewesen ist, den Burenrepubliken zu Hilfe zu kommeu, aber die Entscheidung<lb/>
darüber lag nicht in Berlin, sondern in Petersburg, deun nur Rußland konnte<lb/>
England wirksam bedrohn. Das eine Wort des Zaren, er werde Herat be¬<lb/>
setzen, hätte vermutlich den südafrikanischen Krieg verhindern können, aber es<lb/>
ist nicht gesprochen worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_21"> Die Politik ist eben eine Kunst; sie läßt sich nicht nach Sympathien,<lb/>
Stimmungen, Schlagwörtern und Schablonen leiten. Die Aufgabe der deutschen<lb/>
Politik in der überaus schwierigen Lage, in der sich Dentschland nun einmal<lb/>
befindet, muß es sein, den die Welt beherrschenden Gegensatz zwischen England<lb/>
und Nußland durch das eigne Schwergewicht möglichst auszubalancieren und<lb/>
den Entscheidungskampf möglichst hinauszuschieben. Vielleicht läßt er sich auch<lb/>
ganz vermeiden; jedenfalls wird Dentschland das Zünglein an der Wage sein.<lb/>
Wollte es sich stark nach der einen Seite neigen oder gar ihr ganz anschließen,<lb/>
so würde es den Ausbruch des Weltkriegs vermutlich beschleunigen. Die Ent¬<lb/>
scheidung liegt also in der That zu einem großen Teile in der Hand des<lb/>
deutschen Kaisers. Eine solche Politik erfordert ebenso viel Vorsicht wie Ent¬<lb/>
schlossenheit, und populär kann sie nicht sein. Aber nicht darauf kommt es<lb/>
an, daß sie nach dem jeweiligen sogenannten Volkswillen, sondern daß sie<lb/>
Mu Heile des Vaterlands geführt wird.  8it1u8 irave-rü 8uxröinn, Isx!</p><lb/>
          <note type="byline"/><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Handelspolitik im Jahre</head><lb/>
          <p xml:id="ID_22" next="#ID_23"> uietg. mein nrvvsrs! Das gilt auch in der Handelspolitik, mehr<lb/>
als anderswo. Ohne Not soll man hier nicht stören, nicht<lb/>
ändern, und Wenns doch nötig wird, so behutsam und so vor¬<lb/>
sichtig wie möglich; ohne schroffen Bruch mit dem, was besteht,<lb/>
und ohne Sprünge ins Ungewisse. Es will fast so scheinen, als<lb/>
ob diese Wahrheit, die sich dein gesunden Menschenverstand doch von selbst<lb/>
aufdrängt, seit einiger Zeit nicht recht respektiert würde. Man ist etwas<lb/>
reformsüchtig, und die Handelspolitik ist etwas nervös geworden. Wer aber<lb/>
nervös ist, macht leicht Fehler.  Das Jahr 1901 soll sehr wichtige Entschei-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1901 2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0017] Die Handelspolitik im Jahre 1.9^ und dürfen uns nicht in einen prinzipiellen Gegensatz zu England hinein¬ setzen lassen. Wie jetzt gegen England und jede Annäherung an Eng¬ land, so hat 1863 die' öffentliche Meinung in Deutschland gegen Rußland und die preußisch-russische Februarkonvention getobt, die der demokratische Ab¬ geordnete Waldeck damals Bismarck ins Gesicht einen „Gendarmendienst" für Rußland nannte, und die doch eine der Voraussetzungen für die Gründung der deutschen Einheit geworden ist. Es ist tief bedauerlich, daß es nicht möglich gewesen ist, den Burenrepubliken zu Hilfe zu kommeu, aber die Entscheidung darüber lag nicht in Berlin, sondern in Petersburg, deun nur Rußland konnte England wirksam bedrohn. Das eine Wort des Zaren, er werde Herat be¬ setzen, hätte vermutlich den südafrikanischen Krieg verhindern können, aber es ist nicht gesprochen worden. Die Politik ist eben eine Kunst; sie läßt sich nicht nach Sympathien, Stimmungen, Schlagwörtern und Schablonen leiten. Die Aufgabe der deutschen Politik in der überaus schwierigen Lage, in der sich Dentschland nun einmal befindet, muß es sein, den die Welt beherrschenden Gegensatz zwischen England und Nußland durch das eigne Schwergewicht möglichst auszubalancieren und den Entscheidungskampf möglichst hinauszuschieben. Vielleicht läßt er sich auch ganz vermeiden; jedenfalls wird Dentschland das Zünglein an der Wage sein. Wollte es sich stark nach der einen Seite neigen oder gar ihr ganz anschließen, so würde es den Ausbruch des Weltkriegs vermutlich beschleunigen. Die Ent¬ scheidung liegt also in der That zu einem großen Teile in der Hand des deutschen Kaisers. Eine solche Politik erfordert ebenso viel Vorsicht wie Ent¬ schlossenheit, und populär kann sie nicht sein. Aber nicht darauf kommt es an, daß sie nach dem jeweiligen sogenannten Volkswillen, sondern daß sie Mu Heile des Vaterlands geführt wird. 8it1u8 irave-rü 8uxröinn, Isx! Die Handelspolitik im Jahre uietg. mein nrvvsrs! Das gilt auch in der Handelspolitik, mehr als anderswo. Ohne Not soll man hier nicht stören, nicht ändern, und Wenns doch nötig wird, so behutsam und so vor¬ sichtig wie möglich; ohne schroffen Bruch mit dem, was besteht, und ohne Sprünge ins Ungewisse. Es will fast so scheinen, als ob diese Wahrheit, die sich dein gesunden Menschenverstand doch von selbst aufdrängt, seit einiger Zeit nicht recht respektiert würde. Man ist etwas reformsüchtig, und die Handelspolitik ist etwas nervös geworden. Wer aber nervös ist, macht leicht Fehler. Das Jahr 1901 soll sehr wichtige Entschei- Grenzboten I 1901 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/17
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/17>, abgerufen am 22.07.2024.