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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Bemerkungen. Der Verfasser wolle daraus erkennen, daß seine Sorgen auch die
unsern sind, daß wir aber in der Frage der klassischen Vorbildung nicht so rosen¬
farben sehen wie er, sondern meinen: wer aus einem Brande alles retten möchte,
A. P. rettet vielleicht nichts.


Bücher für beschauliche Leute.

Es sind solche, die man nicht in einem
Zuge durchliest, weil man zu oft anhält und sich mit einzelnem in Gedanken ab¬
finden möchte, die man aber dafür öfter wieder in die Hand nimmt, die man auch
zurückstellt und aufbewahrt, die besten von ihnen sogar länger als die meisten bessern
Romane, denn sie sind noch seltner. Zu diesen rechnen wir in erster Reihe die
kleinen Bücher von Hermann Oeser, der sittliche und religiöse Fragen für das
tägliche Leben beantwortet und christliche Gedanken in die moderne Welt bringt,
wohin keine theologische Wissenschaft und keine Erbauungslitteratur trifft. Bald in
Form von Erzählungen: "Stille Leute" (Basel, Reich), fünfte Auflage, um eine Ge¬
schichte vermehrt; die beste bleibt die erste: "Der alte Pfarrer." Demnächst müßte
die letzte kommen von dem tiefsinnigen alten Schäfer, dem die Welt beschränkter
Bravheit um seiue Hütte herum sein Anderssein übel nahm und es ihn schwer ent¬
gelten ließ. Alle haben etwas ungemein Friedliches und viel Betrachtung, auch
rückwärtsgewandte auf die Vergangenheit, in der man Ruhe sammelt und Kräfte
für die weitergehende Tageshetze. Dann wieder ist der größere Teil eines solchen
Büchleins Betrachtung und Diskussion, wie in den "Gedanken des Herrn Archemorvs"
(aus demselben Verlage), des Erznarren, oder wie er selbst sich verdeutscht, des
Schicksalswegweisers, des Führers für Jrrende, Suchende und selbstgewisse. Am
besten sind gleichwohl die Stücke, in denen die Erzählung stark mitspricht. Eine
sehr ergreifende ist unter Vieren in der neuen, vierten Auflage hinzugekommen:
"Gestorben am vierundzwanzigsten Dezember," worin ein tüchtiger Mann, der weder
sich noch die Seinen froh gemacht hat, erst ans seinem letzten Bette die Sprache findet,
in der sich alle für einen letzten Augenblick noch einmal versteh". Das Gegenstück
dazu, "Der Koffer," berichtet, wie drohende Mißverständnisse beizeiten erkannt und
geklärt werden, gleichfalls beim Weihnachtsfest, aber dem ersten einer jungen Ehe.
Der handelnde Teil ist diesesmal die Frau, und die BeHandlungsweise leicht komisch,
weil ja das Unheil noch glücklich hat abgewandt werden können. Oeser ist ein
vollkommner und dabei ganz natürlicher Erzähler, seine Sachen machen den Eindruck
wie erlebt, und die Worte scheinen ihm zwanglos gefolgt zu sein. Je näher er
sich seiner Heimat hält, desto glücklicher ist er, sowohl selbst als nach dein Eindruck,
den er auf seine Leser macht: diese Loknltönung wirkt wie ein Abendländer draußen
an einem stillen Ende nach dem Geräusch des Tages. Oeser gehört selbst zu den
"stillen Leuten," er ist kein Treiber und Schieber des vierten Standes, und das ist
gut, denn es giebt ja unter den litterarischen Vertretern dieses subjektiven Christen¬
tums schon streitbare Männer genug.

Christliche Haltung hat auch ein andres kleines Buch ans dem Südwesten,
ohne daß es religiöse Fragen behandelt: "Menschenleib, Skizzen und Dichtungen,"
von Paul Quensel (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer). Der Verfasser hat ein
entschiednes Talent für Schilderung. Seine Verse sind gut, aber seiue Prosa ist
noch besser. Leider sind die meisten dieser Skizzen viel zu kurz, der Leser wird
aus einer Stimmung in die andre gejagt, das sollte nicht sein! Breit ist zwar
widerwärtig und kurz manchmal sehr wirkungsvoll, aber es giebt ein mittleres Maß.
Von des Verfassers Stücken kann man einfach sagen: je länger sie sind, desto besser
sind sie. Was er leisten kann, zeigen zwei, die allen andern weit vorangehn: auf
dem ernsten Gebiete "Wie es kam," auf dem humoristischen "Herr Niebegall," beide
tief poetisch und lebendig anschaulich, Meisterwerke in ihrer Art. Lauter solche zu


Litteratur

Bemerkungen. Der Verfasser wolle daraus erkennen, daß seine Sorgen auch die
unsern sind, daß wir aber in der Frage der klassischen Vorbildung nicht so rosen¬
farben sehen wie er, sondern meinen: wer aus einem Brande alles retten möchte,
A. P. rettet vielleicht nichts.


Bücher für beschauliche Leute.

Es sind solche, die man nicht in einem
Zuge durchliest, weil man zu oft anhält und sich mit einzelnem in Gedanken ab¬
finden möchte, die man aber dafür öfter wieder in die Hand nimmt, die man auch
zurückstellt und aufbewahrt, die besten von ihnen sogar länger als die meisten bessern
Romane, denn sie sind noch seltner. Zu diesen rechnen wir in erster Reihe die
kleinen Bücher von Hermann Oeser, der sittliche und religiöse Fragen für das
tägliche Leben beantwortet und christliche Gedanken in die moderne Welt bringt,
wohin keine theologische Wissenschaft und keine Erbauungslitteratur trifft. Bald in
Form von Erzählungen: „Stille Leute" (Basel, Reich), fünfte Auflage, um eine Ge¬
schichte vermehrt; die beste bleibt die erste: „Der alte Pfarrer." Demnächst müßte
die letzte kommen von dem tiefsinnigen alten Schäfer, dem die Welt beschränkter
Bravheit um seiue Hütte herum sein Anderssein übel nahm und es ihn schwer ent¬
gelten ließ. Alle haben etwas ungemein Friedliches und viel Betrachtung, auch
rückwärtsgewandte auf die Vergangenheit, in der man Ruhe sammelt und Kräfte
für die weitergehende Tageshetze. Dann wieder ist der größere Teil eines solchen
Büchleins Betrachtung und Diskussion, wie in den „Gedanken des Herrn Archemorvs"
(aus demselben Verlage), des Erznarren, oder wie er selbst sich verdeutscht, des
Schicksalswegweisers, des Führers für Jrrende, Suchende und selbstgewisse. Am
besten sind gleichwohl die Stücke, in denen die Erzählung stark mitspricht. Eine
sehr ergreifende ist unter Vieren in der neuen, vierten Auflage hinzugekommen:
„Gestorben am vierundzwanzigsten Dezember," worin ein tüchtiger Mann, der weder
sich noch die Seinen froh gemacht hat, erst ans seinem letzten Bette die Sprache findet,
in der sich alle für einen letzten Augenblick noch einmal versteh». Das Gegenstück
dazu, „Der Koffer," berichtet, wie drohende Mißverständnisse beizeiten erkannt und
geklärt werden, gleichfalls beim Weihnachtsfest, aber dem ersten einer jungen Ehe.
Der handelnde Teil ist diesesmal die Frau, und die BeHandlungsweise leicht komisch,
weil ja das Unheil noch glücklich hat abgewandt werden können. Oeser ist ein
vollkommner und dabei ganz natürlicher Erzähler, seine Sachen machen den Eindruck
wie erlebt, und die Worte scheinen ihm zwanglos gefolgt zu sein. Je näher er
sich seiner Heimat hält, desto glücklicher ist er, sowohl selbst als nach dein Eindruck,
den er auf seine Leser macht: diese Loknltönung wirkt wie ein Abendländer draußen
an einem stillen Ende nach dem Geräusch des Tages. Oeser gehört selbst zu den
„stillen Leuten," er ist kein Treiber und Schieber des vierten Standes, und das ist
gut, denn es giebt ja unter den litterarischen Vertretern dieses subjektiven Christen¬
tums schon streitbare Männer genug.

Christliche Haltung hat auch ein andres kleines Buch ans dem Südwesten,
ohne daß es religiöse Fragen behandelt: „Menschenleib, Skizzen und Dichtungen,"
von Paul Quensel (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer). Der Verfasser hat ein
entschiednes Talent für Schilderung. Seine Verse sind gut, aber seiue Prosa ist
noch besser. Leider sind die meisten dieser Skizzen viel zu kurz, der Leser wird
aus einer Stimmung in die andre gejagt, das sollte nicht sein! Breit ist zwar
widerwärtig und kurz manchmal sehr wirkungsvoll, aber es giebt ein mittleres Maß.
Von des Verfassers Stücken kann man einfach sagen: je länger sie sind, desto besser
sind sie. Was er leisten kann, zeigen zwei, die allen andern weit vorangehn: auf
dem ernsten Gebiete „Wie es kam," auf dem humoristischen „Herr Niebegall," beide
tief poetisch und lebendig anschaulich, Meisterwerke in ihrer Art. Lauter solche zu


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[0375] Litteratur Bemerkungen. Der Verfasser wolle daraus erkennen, daß seine Sorgen auch die unsern sind, daß wir aber in der Frage der klassischen Vorbildung nicht so rosen¬ farben sehen wie er, sondern meinen: wer aus einem Brande alles retten möchte, A. P. rettet vielleicht nichts. Bücher für beschauliche Leute. Es sind solche, die man nicht in einem Zuge durchliest, weil man zu oft anhält und sich mit einzelnem in Gedanken ab¬ finden möchte, die man aber dafür öfter wieder in die Hand nimmt, die man auch zurückstellt und aufbewahrt, die besten von ihnen sogar länger als die meisten bessern Romane, denn sie sind noch seltner. Zu diesen rechnen wir in erster Reihe die kleinen Bücher von Hermann Oeser, der sittliche und religiöse Fragen für das tägliche Leben beantwortet und christliche Gedanken in die moderne Welt bringt, wohin keine theologische Wissenschaft und keine Erbauungslitteratur trifft. Bald in Form von Erzählungen: „Stille Leute" (Basel, Reich), fünfte Auflage, um eine Ge¬ schichte vermehrt; die beste bleibt die erste: „Der alte Pfarrer." Demnächst müßte die letzte kommen von dem tiefsinnigen alten Schäfer, dem die Welt beschränkter Bravheit um seiue Hütte herum sein Anderssein übel nahm und es ihn schwer ent¬ gelten ließ. Alle haben etwas ungemein Friedliches und viel Betrachtung, auch rückwärtsgewandte auf die Vergangenheit, in der man Ruhe sammelt und Kräfte für die weitergehende Tageshetze. Dann wieder ist der größere Teil eines solchen Büchleins Betrachtung und Diskussion, wie in den „Gedanken des Herrn Archemorvs" (aus demselben Verlage), des Erznarren, oder wie er selbst sich verdeutscht, des Schicksalswegweisers, des Führers für Jrrende, Suchende und selbstgewisse. Am besten sind gleichwohl die Stücke, in denen die Erzählung stark mitspricht. Eine sehr ergreifende ist unter Vieren in der neuen, vierten Auflage hinzugekommen: „Gestorben am vierundzwanzigsten Dezember," worin ein tüchtiger Mann, der weder sich noch die Seinen froh gemacht hat, erst ans seinem letzten Bette die Sprache findet, in der sich alle für einen letzten Augenblick noch einmal versteh». Das Gegenstück dazu, „Der Koffer," berichtet, wie drohende Mißverständnisse beizeiten erkannt und geklärt werden, gleichfalls beim Weihnachtsfest, aber dem ersten einer jungen Ehe. Der handelnde Teil ist diesesmal die Frau, und die BeHandlungsweise leicht komisch, weil ja das Unheil noch glücklich hat abgewandt werden können. Oeser ist ein vollkommner und dabei ganz natürlicher Erzähler, seine Sachen machen den Eindruck wie erlebt, und die Worte scheinen ihm zwanglos gefolgt zu sein. Je näher er sich seiner Heimat hält, desto glücklicher ist er, sowohl selbst als nach dein Eindruck, den er auf seine Leser macht: diese Loknltönung wirkt wie ein Abendländer draußen an einem stillen Ende nach dem Geräusch des Tages. Oeser gehört selbst zu den „stillen Leuten," er ist kein Treiber und Schieber des vierten Standes, und das ist gut, denn es giebt ja unter den litterarischen Vertretern dieses subjektiven Christen¬ tums schon streitbare Männer genug. Christliche Haltung hat auch ein andres kleines Buch ans dem Südwesten, ohne daß es religiöse Fragen behandelt: „Menschenleib, Skizzen und Dichtungen," von Paul Quensel (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer). Der Verfasser hat ein entschiednes Talent für Schilderung. Seine Verse sind gut, aber seiue Prosa ist noch besser. Leider sind die meisten dieser Skizzen viel zu kurz, der Leser wird aus einer Stimmung in die andre gejagt, das sollte nicht sein! Breit ist zwar widerwärtig und kurz manchmal sehr wirkungsvoll, aber es giebt ein mittleres Maß. Von des Verfassers Stücken kann man einfach sagen: je länger sie sind, desto besser sind sie. Was er leisten kann, zeigen zwei, die allen andern weit vorangehn: auf dem ernsten Gebiete „Wie es kam," auf dem humoristischen „Herr Niebegall," beide tief poetisch und lebendig anschaulich, Meisterwerke in ihrer Art. Lauter solche zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/375>, abgerufen am 05.12.2024.