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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage
i

le Verhandlungen des Reichstags über den Gesetzentwurf zum
Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses verdienen nicht
nur wegen der Sache, die der Entwurf behandelt, sondern
vor allem wegen der Art, wie sie der Reichstag behandelt
^.hat, eine besondre Beachtung. Die UnHaltbarkeit der poli¬
tischen Lage -- der Parteiverhältnisse sowohl, wie der Stellung der Re¬
gierungen zu ihnen -- ist dadurch besonders grell beleuchtet, und die Lage
selbst der Krisis viel näher gebracht worden. Das wäre an sich kein Un¬
glück. Aber die Verhandlungen vom 19. bis 22. Juni deuten leider zu¬
gleich auf eine gewisse Verkümmerung des politischen Ernstes und des poli¬
tischen Verständnisses hin, die die kommende Krisis sehr langwierig und ge¬
fährlich zu machen drohen. Selten haben sich die gebildeten Klassen im Volke
der Denker in solchem Grade verleiten lassen, kritiklos Entstellungen und Über¬
treibungen als bare Münze hinzunehmen und in Umlauf zu setzen, wie es der
sogenannten Zuchthausvorlage gegenüber geschehen ist. Selten hat sich nament¬
lich eine parlamentarische Körperschaft in Deutschland so ausgiebig an einer
Eutrüstungskomödie beteiligt, wie in diesem Falle. Es handelt sich, wenn
man alles täuschende Beiwerk vom Kern der Sache abstreift, um nichts mehr
und nichts weniger als um den Versuch, das deutsche Volk glauben zu machen,
der Gesetzentwurf bedeute einen ganz neuen und sehr feindseligen Angriff auf
das gute Recht, die Freiheit und die Wohlfahrt der arbeitenden Klaffen, wozu
der Kaiser persönlich nicht nur die Anregung gegeben, sondern auch allen
mildern und liberalem Strömungen im Kreise der Regierungen gegenüber
seinen ganzen Einfluß aufgeboten habe. In dieser Geschichtsfälschung liegt
die verhängnisvolle Bedeutung der Sache. Und daß sich nicht nur die Sozial¬
demokraten, die Deutschfreisinnigen und die Vvlksparteiler dafür zu Eides-


Grenzboten III 1899 7


Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage
i

le Verhandlungen des Reichstags über den Gesetzentwurf zum
Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses verdienen nicht
nur wegen der Sache, die der Entwurf behandelt, sondern
vor allem wegen der Art, wie sie der Reichstag behandelt
^.hat, eine besondre Beachtung. Die UnHaltbarkeit der poli¬
tischen Lage — der Parteiverhältnisse sowohl, wie der Stellung der Re¬
gierungen zu ihnen — ist dadurch besonders grell beleuchtet, und die Lage
selbst der Krisis viel näher gebracht worden. Das wäre an sich kein Un¬
glück. Aber die Verhandlungen vom 19. bis 22. Juni deuten leider zu¬
gleich auf eine gewisse Verkümmerung des politischen Ernstes und des poli¬
tischen Verständnisses hin, die die kommende Krisis sehr langwierig und ge¬
fährlich zu machen drohen. Selten haben sich die gebildeten Klassen im Volke
der Denker in solchem Grade verleiten lassen, kritiklos Entstellungen und Über¬
treibungen als bare Münze hinzunehmen und in Umlauf zu setzen, wie es der
sogenannten Zuchthausvorlage gegenüber geschehen ist. Selten hat sich nament¬
lich eine parlamentarische Körperschaft in Deutschland so ausgiebig an einer
Eutrüstungskomödie beteiligt, wie in diesem Falle. Es handelt sich, wenn
man alles täuschende Beiwerk vom Kern der Sache abstreift, um nichts mehr
und nichts weniger als um den Versuch, das deutsche Volk glauben zu machen,
der Gesetzentwurf bedeute einen ganz neuen und sehr feindseligen Angriff auf
das gute Recht, die Freiheit und die Wohlfahrt der arbeitenden Klaffen, wozu
der Kaiser persönlich nicht nur die Anregung gegeben, sondern auch allen
mildern und liberalem Strömungen im Kreise der Regierungen gegenüber
seinen ganzen Einfluß aufgeboten habe. In dieser Geschichtsfälschung liegt
die verhängnisvolle Bedeutung der Sache. Und daß sich nicht nur die Sozial¬
demokraten, die Deutschfreisinnigen und die Vvlksparteiler dafür zu Eides-


Grenzboten III 1899 7
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[0057] [Abbildung] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage i le Verhandlungen des Reichstags über den Gesetzentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses verdienen nicht nur wegen der Sache, die der Entwurf behandelt, sondern vor allem wegen der Art, wie sie der Reichstag behandelt ^.hat, eine besondre Beachtung. Die UnHaltbarkeit der poli¬ tischen Lage — der Parteiverhältnisse sowohl, wie der Stellung der Re¬ gierungen zu ihnen — ist dadurch besonders grell beleuchtet, und die Lage selbst der Krisis viel näher gebracht worden. Das wäre an sich kein Un¬ glück. Aber die Verhandlungen vom 19. bis 22. Juni deuten leider zu¬ gleich auf eine gewisse Verkümmerung des politischen Ernstes und des poli¬ tischen Verständnisses hin, die die kommende Krisis sehr langwierig und ge¬ fährlich zu machen drohen. Selten haben sich die gebildeten Klassen im Volke der Denker in solchem Grade verleiten lassen, kritiklos Entstellungen und Über¬ treibungen als bare Münze hinzunehmen und in Umlauf zu setzen, wie es der sogenannten Zuchthausvorlage gegenüber geschehen ist. Selten hat sich nament¬ lich eine parlamentarische Körperschaft in Deutschland so ausgiebig an einer Eutrüstungskomödie beteiligt, wie in diesem Falle. Es handelt sich, wenn man alles täuschende Beiwerk vom Kern der Sache abstreift, um nichts mehr und nichts weniger als um den Versuch, das deutsche Volk glauben zu machen, der Gesetzentwurf bedeute einen ganz neuen und sehr feindseligen Angriff auf das gute Recht, die Freiheit und die Wohlfahrt der arbeitenden Klaffen, wozu der Kaiser persönlich nicht nur die Anregung gegeben, sondern auch allen mildern und liberalem Strömungen im Kreise der Regierungen gegenüber seinen ganzen Einfluß aufgeboten habe. In dieser Geschichtsfälschung liegt die verhängnisvolle Bedeutung der Sache. Und daß sich nicht nur die Sozial¬ demokraten, die Deutschfreisinnigen und die Vvlksparteiler dafür zu Eides- Grenzboten III 1899 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/57>, abgerufen am 15.01.2025.