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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

rotz der Statistik an allen Ecken und Enden haben sich die letzten
Jahrzehnte durch ein ganz besonders großes Maß von Über¬
treibungen und Illusionen auf volkswirtschaftlichen und sozialem
Gebiet ausgezeichnet. Bis heutigen tags scheint man vielfach die
Thatsachen vor Zahlen nicht zu sehen.

Es sind jetzt über zwanzig Jahre her, daß ein Berliner Handwerkerverein
das "sachverständige" Gutachten abgab: "In Erwägung, daß die normale
Produktionsweise die der Großindustrie ist, daß die großindustrielle Organi¬
sation sich mehr und mehr über alle Gebiete der Warenerzeugung ausdehnt,
daß also dem Kleingewerbe an und für sich nicht mehr geholfen werden kann,
erklärt der Verein, in der Veranstaltung von GeWerbeausstellungen kein Mittel
zur Hebung des Handwerks zu erblicken." Das war damals in Berlin -- die
GeWerbeausstellungen und der Ausstellungsschwindel, zu dem sie seitdem aus¬
geartet sind, interessieren hier nicht -- nicht etwa kathedersozialistische Weis¬
heit, sondern ein Dogma des deutschen Manchestertnms, wie es von der "Volks¬
wirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin" dem Spießbürgertum gepredigt und vom
deutschen Liberalismus geglaubt wurde. Ich habe schon damals vor dem
Sachverstände der Berliner und überhaupt der altpreußischen Handwerker- und
Gewerbevereine -- im schärfsten Gegensatze zu den süddeutschen -- in der
Hcmdwerkerfrage keinen großen Respekt gehabt, denn sie kümmerten sich schon
damals um alles andre, nur nicht um das Handwerk. Soweit sie sich über¬
haupt mit volkswirtschaftlichen Fragen -- für die sozialen hatten sie gar kein
Interesse -- befaßten, thaten sie es eben nur als Agitationsvrgane der
manchesterlichen Wortführer. Im übrigen dienten sie dem politischen Partei¬
liberalismus und staffierten sich nur nebenher mit einigen naturwissenschaft¬
lichen, historischen und prähistorischen Vorträgen aus. Die deutsche Statistik


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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

rotz der Statistik an allen Ecken und Enden haben sich die letzten
Jahrzehnte durch ein ganz besonders großes Maß von Über¬
treibungen und Illusionen auf volkswirtschaftlichen und sozialem
Gebiet ausgezeichnet. Bis heutigen tags scheint man vielfach die
Thatsachen vor Zahlen nicht zu sehen.

Es sind jetzt über zwanzig Jahre her, daß ein Berliner Handwerkerverein
das „sachverständige" Gutachten abgab: „In Erwägung, daß die normale
Produktionsweise die der Großindustrie ist, daß die großindustrielle Organi¬
sation sich mehr und mehr über alle Gebiete der Warenerzeugung ausdehnt,
daß also dem Kleingewerbe an und für sich nicht mehr geholfen werden kann,
erklärt der Verein, in der Veranstaltung von GeWerbeausstellungen kein Mittel
zur Hebung des Handwerks zu erblicken." Das war damals in Berlin — die
GeWerbeausstellungen und der Ausstellungsschwindel, zu dem sie seitdem aus¬
geartet sind, interessieren hier nicht — nicht etwa kathedersozialistische Weis¬
heit, sondern ein Dogma des deutschen Manchestertnms, wie es von der „Volks¬
wirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin" dem Spießbürgertum gepredigt und vom
deutschen Liberalismus geglaubt wurde. Ich habe schon damals vor dem
Sachverstände der Berliner und überhaupt der altpreußischen Handwerker- und
Gewerbevereine — im schärfsten Gegensatze zu den süddeutschen — in der
Hcmdwerkerfrage keinen großen Respekt gehabt, denn sie kümmerten sich schon
damals um alles andre, nur nicht um das Handwerk. Soweit sie sich über¬
haupt mit volkswirtschaftlichen Fragen — für die sozialen hatten sie gar kein
Interesse — befaßten, thaten sie es eben nur als Agitationsvrgane der
manchesterlichen Wortführer. Im übrigen dienten sie dem politischen Partei¬
liberalismus und staffierten sich nur nebenher mit einigen naturwissenschaft¬
lichen, historischen und prähistorischen Vorträgen aus. Die deutsche Statistik


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[0241] [Abbildung] Die Fabel vom Untergang des Handwerks rotz der Statistik an allen Ecken und Enden haben sich die letzten Jahrzehnte durch ein ganz besonders großes Maß von Über¬ treibungen und Illusionen auf volkswirtschaftlichen und sozialem Gebiet ausgezeichnet. Bis heutigen tags scheint man vielfach die Thatsachen vor Zahlen nicht zu sehen. Es sind jetzt über zwanzig Jahre her, daß ein Berliner Handwerkerverein das „sachverständige" Gutachten abgab: „In Erwägung, daß die normale Produktionsweise die der Großindustrie ist, daß die großindustrielle Organi¬ sation sich mehr und mehr über alle Gebiete der Warenerzeugung ausdehnt, daß also dem Kleingewerbe an und für sich nicht mehr geholfen werden kann, erklärt der Verein, in der Veranstaltung von GeWerbeausstellungen kein Mittel zur Hebung des Handwerks zu erblicken." Das war damals in Berlin — die GeWerbeausstellungen und der Ausstellungsschwindel, zu dem sie seitdem aus¬ geartet sind, interessieren hier nicht — nicht etwa kathedersozialistische Weis¬ heit, sondern ein Dogma des deutschen Manchestertnms, wie es von der „Volks¬ wirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin" dem Spießbürgertum gepredigt und vom deutschen Liberalismus geglaubt wurde. Ich habe schon damals vor dem Sachverstände der Berliner und überhaupt der altpreußischen Handwerker- und Gewerbevereine — im schärfsten Gegensatze zu den süddeutschen — in der Hcmdwerkerfrage keinen großen Respekt gehabt, denn sie kümmerten sich schon damals um alles andre, nur nicht um das Handwerk. Soweit sie sich über¬ haupt mit volkswirtschaftlichen Fragen — für die sozialen hatten sie gar kein Interesse — befaßten, thaten sie es eben nur als Agitationsvrgane der manchesterlichen Wortführer. Im übrigen dienten sie dem politischen Partei¬ liberalismus und staffierten sich nur nebenher mit einigen naturwissenschaft¬ lichen, historischen und prähistorischen Vorträgen aus. Die deutsche Statistik Grenzboten I 180!» A>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/241>, abgerufen am 03.07.2024.