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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Spuren im Schnee

Der Übergang aus der engen Gasse auf den marktbreiten Boulevard war
ungefähr so, als wenn man bei Unwetter aus einem Fjord in die offne See
hinauskommt. Hier raste der Sturm ungehindert, trieb ihm die länglichen Schnee¬
wetter gerade entgegen und heulte zwischen den Bäumen im Örstedpark, als sei die
wilde Jagd los -- von Zeit zu Zeit mußte sich der Leutnant einfach umdrehen,
um Luft zu schöpfen.

Wie er so einen Augenblick dastand und Atem holte, entdeckte er im Schnee
frische Spuren Pou jemand, der denselben Weg gegangen war, den er ging. Es
konnte ihm ja an und für sich gänzlich gleichgültig sein, wer dieser Jemand war,
aber den Leutnant überkam teils nnter der Einwirkung der mittelnlterlicheu Stim¬
mung von vorhin, teils infolge der Unterhaltung mit den Kameraden plötzlich eine
unbändige Lust zu erfahren, wer es sei, der da vor ihm herging -- etwas zu
sehen war ja des Schneegestöbers wegen unmöglich --, und zu versuchen, ob er
seinen Vorgänger nicht einholen konnte: es war ja denkbar, daß dies seine gute
Fee, das Glück in eigner Person, oder etwas ähnliches war. Unsinn! Wie sollte
das Glück wohl auf den Einfall kommen, sich in dem Wetter draußen herum¬
zutreiben! Dummheiten! Und der Leutnant setzte eine Weile ganz bedächtig
seinen Weg fort, bis er Plötzlich, völlig unmotivirt, seinen Entschluß änderte, lange
Beine machte, gegen Schnee und Sturm ankämpfte und eifriger nud eifriger
wurde -- wie es Leute, die von einem festlichen Gelage kommen, leicht werden
können.

Ein paar Minuten später erblickte er denn auch wirklich gerade vor sich etwas
Schwarzes, er holte es ein, es nahm Form an und wurde zu einer männlichen
Gestalt, und nun war er schon nahe genug, zu sehen, daß die Gestalt einen wunder¬
lichen, altmodischen Mantel mit mehreren Kragen über einander -- Klitscherkragen,
Wie man sie nennt -- trug, als sie Plötzlich in der Nähe der Ruinen des Jermcr-
tnrmes im Schneetreiben seinen Angen entschwand. Es sah so aus, als sei der
Unbekannte hinter den Ruinen oder in den Ruinen verschwunden -- weg war er.

Eine Viertelstunde später lag Leutnant Hog in seinem Bett in der Ghlden-
lvvesgade und träumte weder vom Mittelalter im allgemeinen, noch von dem Jermer-
turm im besondern.


2

Am nächsten Morgen hatte das Wetter sich besonnen, es lag völlige Windstille
über der Weißen Stadt; die Sonne glitzerte auf Dächern und Giebeln, die eisernen
Schaufeln kratzten auf den Bürgerstiegen, und ein vereinzelter Schlitten ließ sich
in den Straßen sehen.

Leutnant Hog ging am Vormittag nach dem Bahnhof und erkundigte sich, ob
Aussicht vorhanden sei, daß am Abend ein Zug durchkommen könne. -- Ja, auf
Seeland und Fünen würde die Bahn sicher frei werden; was Jütlnud anbeträfe,
so sei die Sache etwas zweifelhafterer Natur, aber man hoffe doch usw.

So machte er einige Einkäufe und ging zu einem Photographen, um ein Bild
von sich selbst in voller Gala, das er der Tante mitnehmen wollte, abzuholen.
Während er im Wartezimmer saß, blätterte er in einem Album und besah halb
geistesabwesend die Photographien, und er war eben im Begriff, ein Blatt umzu¬
wenden, ohne es eigentlich gesehen zu haben, um zur nächsten Seite überzugehen,
"is sein Blick auf das Bild einer jungen Dame fiel, das ihn im höchsten Grade
fesselte. Nicht daß Leutnant Hog sehr verliebter Natur gewesen wäre, im Gegen¬
teil: er war achtundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eigentlich jemals richtig verliebt


Spuren im Schnee

Der Übergang aus der engen Gasse auf den marktbreiten Boulevard war
ungefähr so, als wenn man bei Unwetter aus einem Fjord in die offne See
hinauskommt. Hier raste der Sturm ungehindert, trieb ihm die länglichen Schnee¬
wetter gerade entgegen und heulte zwischen den Bäumen im Örstedpark, als sei die
wilde Jagd los — von Zeit zu Zeit mußte sich der Leutnant einfach umdrehen,
um Luft zu schöpfen.

Wie er so einen Augenblick dastand und Atem holte, entdeckte er im Schnee
frische Spuren Pou jemand, der denselben Weg gegangen war, den er ging. Es
konnte ihm ja an und für sich gänzlich gleichgültig sein, wer dieser Jemand war,
aber den Leutnant überkam teils nnter der Einwirkung der mittelnlterlicheu Stim¬
mung von vorhin, teils infolge der Unterhaltung mit den Kameraden plötzlich eine
unbändige Lust zu erfahren, wer es sei, der da vor ihm herging — etwas zu
sehen war ja des Schneegestöbers wegen unmöglich —, und zu versuchen, ob er
seinen Vorgänger nicht einholen konnte: es war ja denkbar, daß dies seine gute
Fee, das Glück in eigner Person, oder etwas ähnliches war. Unsinn! Wie sollte
das Glück wohl auf den Einfall kommen, sich in dem Wetter draußen herum¬
zutreiben! Dummheiten! Und der Leutnant setzte eine Weile ganz bedächtig
seinen Weg fort, bis er Plötzlich, völlig unmotivirt, seinen Entschluß änderte, lange
Beine machte, gegen Schnee und Sturm ankämpfte und eifriger nud eifriger
wurde — wie es Leute, die von einem festlichen Gelage kommen, leicht werden
können.

Ein paar Minuten später erblickte er denn auch wirklich gerade vor sich etwas
Schwarzes, er holte es ein, es nahm Form an und wurde zu einer männlichen
Gestalt, und nun war er schon nahe genug, zu sehen, daß die Gestalt einen wunder¬
lichen, altmodischen Mantel mit mehreren Kragen über einander — Klitscherkragen,
Wie man sie nennt — trug, als sie Plötzlich in der Nähe der Ruinen des Jermcr-
tnrmes im Schneetreiben seinen Angen entschwand. Es sah so aus, als sei der
Unbekannte hinter den Ruinen oder in den Ruinen verschwunden — weg war er.

Eine Viertelstunde später lag Leutnant Hog in seinem Bett in der Ghlden-
lvvesgade und träumte weder vom Mittelalter im allgemeinen, noch von dem Jermer-
turm im besondern.


2

Am nächsten Morgen hatte das Wetter sich besonnen, es lag völlige Windstille
über der Weißen Stadt; die Sonne glitzerte auf Dächern und Giebeln, die eisernen
Schaufeln kratzten auf den Bürgerstiegen, und ein vereinzelter Schlitten ließ sich
in den Straßen sehen.

Leutnant Hog ging am Vormittag nach dem Bahnhof und erkundigte sich, ob
Aussicht vorhanden sei, daß am Abend ein Zug durchkommen könne. — Ja, auf
Seeland und Fünen würde die Bahn sicher frei werden; was Jütlnud anbeträfe,
so sei die Sache etwas zweifelhafterer Natur, aber man hoffe doch usw.

So machte er einige Einkäufe und ging zu einem Photographen, um ein Bild
von sich selbst in voller Gala, das er der Tante mitnehmen wollte, abzuholen.
Während er im Wartezimmer saß, blätterte er in einem Album und besah halb
geistesabwesend die Photographien, und er war eben im Begriff, ein Blatt umzu¬
wenden, ohne es eigentlich gesehen zu haben, um zur nächsten Seite überzugehen,
"is sein Blick auf das Bild einer jungen Dame fiel, das ihn im höchsten Grade
fesselte. Nicht daß Leutnant Hog sehr verliebter Natur gewesen wäre, im Gegen¬
teil: er war achtundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eigentlich jemals richtig verliebt


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[0438] Spuren im Schnee Der Übergang aus der engen Gasse auf den marktbreiten Boulevard war ungefähr so, als wenn man bei Unwetter aus einem Fjord in die offne See hinauskommt. Hier raste der Sturm ungehindert, trieb ihm die länglichen Schnee¬ wetter gerade entgegen und heulte zwischen den Bäumen im Örstedpark, als sei die wilde Jagd los — von Zeit zu Zeit mußte sich der Leutnant einfach umdrehen, um Luft zu schöpfen. Wie er so einen Augenblick dastand und Atem holte, entdeckte er im Schnee frische Spuren Pou jemand, der denselben Weg gegangen war, den er ging. Es konnte ihm ja an und für sich gänzlich gleichgültig sein, wer dieser Jemand war, aber den Leutnant überkam teils nnter der Einwirkung der mittelnlterlicheu Stim¬ mung von vorhin, teils infolge der Unterhaltung mit den Kameraden plötzlich eine unbändige Lust zu erfahren, wer es sei, der da vor ihm herging — etwas zu sehen war ja des Schneegestöbers wegen unmöglich —, und zu versuchen, ob er seinen Vorgänger nicht einholen konnte: es war ja denkbar, daß dies seine gute Fee, das Glück in eigner Person, oder etwas ähnliches war. Unsinn! Wie sollte das Glück wohl auf den Einfall kommen, sich in dem Wetter draußen herum¬ zutreiben! Dummheiten! Und der Leutnant setzte eine Weile ganz bedächtig seinen Weg fort, bis er Plötzlich, völlig unmotivirt, seinen Entschluß änderte, lange Beine machte, gegen Schnee und Sturm ankämpfte und eifriger nud eifriger wurde — wie es Leute, die von einem festlichen Gelage kommen, leicht werden können. Ein paar Minuten später erblickte er denn auch wirklich gerade vor sich etwas Schwarzes, er holte es ein, es nahm Form an und wurde zu einer männlichen Gestalt, und nun war er schon nahe genug, zu sehen, daß die Gestalt einen wunder¬ lichen, altmodischen Mantel mit mehreren Kragen über einander — Klitscherkragen, Wie man sie nennt — trug, als sie Plötzlich in der Nähe der Ruinen des Jermcr- tnrmes im Schneetreiben seinen Angen entschwand. Es sah so aus, als sei der Unbekannte hinter den Ruinen oder in den Ruinen verschwunden — weg war er. Eine Viertelstunde später lag Leutnant Hog in seinem Bett in der Ghlden- lvvesgade und träumte weder vom Mittelalter im allgemeinen, noch von dem Jermer- turm im besondern. 2 Am nächsten Morgen hatte das Wetter sich besonnen, es lag völlige Windstille über der Weißen Stadt; die Sonne glitzerte auf Dächern und Giebeln, die eisernen Schaufeln kratzten auf den Bürgerstiegen, und ein vereinzelter Schlitten ließ sich in den Straßen sehen. Leutnant Hog ging am Vormittag nach dem Bahnhof und erkundigte sich, ob Aussicht vorhanden sei, daß am Abend ein Zug durchkommen könne. — Ja, auf Seeland und Fünen würde die Bahn sicher frei werden; was Jütlnud anbeträfe, so sei die Sache etwas zweifelhafterer Natur, aber man hoffe doch usw. So machte er einige Einkäufe und ging zu einem Photographen, um ein Bild von sich selbst in voller Gala, das er der Tante mitnehmen wollte, abzuholen. Während er im Wartezimmer saß, blätterte er in einem Album und besah halb geistesabwesend die Photographien, und er war eben im Begriff, ein Blatt umzu¬ wenden, ohne es eigentlich gesehen zu haben, um zur nächsten Seite überzugehen, "is sein Blick auf das Bild einer jungen Dame fiel, das ihn im höchsten Grade fesselte. Nicht daß Leutnant Hog sehr verliebter Natur gewesen wäre, im Gegen¬ teil: er war achtundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eigentlich jemals richtig verliebt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/438>, abgerufen am 12.12.2024.