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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Kaum war er tot, so kamen die entfernten Verwandten an, um den Ver¬
storbnen und seine Hinterlassenschaft in Besitz zu nehmen. Man setzte in die
Zeitung einen fettgedruckten Nachruf und bestellte ein Begräbnis erster Klasse. Der
Herr Archidicckonus, der die Trauerrede hielt, beschränkte sich, weil er von Feodor
Zausch nicht viel in Erfahrung bringen konnte und mit dem, was er erfuhr, nicht
viel anzufangen wußte, auf etliche altbewährte Gemeinplätze, und man ging wohl¬
getröstet nach Hause. schleunigst wurde die Musikalienhandlung und das Museum
verkauft. Der Ertrag des Sammeleifers eines ganzen Lebens flog an einem ein¬
zigen Auktionstage in alle Welt, etliches nach Rußland, etliches uach Amerika, aber
das meiste kam nach England, wo es ein steifer, Antiquitäten sammelnder Lord
in einem seiner Schlösser begrub.

An Feodor Zausch dachte kein Mensch mehr, außer Linchen, die getreulich an
den Nachmittagen, an denen sie sonst mit ihrem Feodor im Stadtgarten Kaffee
getrunken und Kuchen gegessen hatte, zum Kirchhofe hinausging und sich an sein
Grab setzte, häkelte und ihren Gedanken nachhing. Ein Gedanke war es, der ihr
immer klarer vor die Seele trat: Wenn alle die alten Fagotts und Baßgeigen
da unten im Grabe lägen statt ihres Feodors, oder wenn sie nie aus dem
Staube zusammengesucht worden wären, die Welt würde um nichts ärmer, sie
aber um vieles reicher geworden sein.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Jenseitiges.

Nietzsches leidenschaftlicher Kampf gegen die "Hinterweltler"
ist ein Schlag ins Wasser gewesen. Kaum zu irgend einer andern Zeit sind die
Menschen in den Mußestunden, die ihnen die Balgerei und Plackerei um Brot und
Geld frei läßt, so erpicht darauf gewesen, zu ergrübeln, was eigentlich hinter der
Welt der Erscheinungen steckt. Aus dem Haufen neuer Bücher, die dieser Grübelei
gewidmet sind, fischen wir ein paar Proben heraus. Karl August*) und
C. A. Friedrichs) greifen beide dem Weltwesen an die Nieren und fassen es
physikalisch an; jener konstruirt die Welt als ein System von Druck und Gegen¬
druck, dieser als einen Strom vom Zentrum ausgehenden und als einen Gegenstrom
zurückkehrenden Lebens. Mit Hilfe seines Mechanismus spinnt jeder von beiden
ans dem Weltwesen die Welt und die Menschheit samt Kunst und Wissenschaft,
Religion und Sittlichkeit und Politik heraus. Natürlich spinnt jeder nur heraus,
was er vorher hineingewickelt hat. Und so bekommt der zweite einen persönlichen
Gott (er geht, Wie wir, von der Überzeugung aus, daß die Ursache die Wirkung
enthalten, also größer und vollkommner sein müßte als diese, daß also der bewußte
Geist nicht aus einem unbewußten und noch weniger aus der Materie stammen
könne), während August nicht recht zu wissen scheint, ob er seinen Gott bewußt oder
unbewußt nennen soll. Er führt für die "Weltbausteine" die neue Bezeichnung




") Die Welt und ihre Umgebung, bei Paul Zillmann, Berlin-Zehlendorf, 1N>7.
*) Die Weltanschauung eines modernen Christen, Leipzig, Wilh. Friedrich, 1897.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Kaum war er tot, so kamen die entfernten Verwandten an, um den Ver¬
storbnen und seine Hinterlassenschaft in Besitz zu nehmen. Man setzte in die
Zeitung einen fettgedruckten Nachruf und bestellte ein Begräbnis erster Klasse. Der
Herr Archidicckonus, der die Trauerrede hielt, beschränkte sich, weil er von Feodor
Zausch nicht viel in Erfahrung bringen konnte und mit dem, was er erfuhr, nicht
viel anzufangen wußte, auf etliche altbewährte Gemeinplätze, und man ging wohl¬
getröstet nach Hause. schleunigst wurde die Musikalienhandlung und das Museum
verkauft. Der Ertrag des Sammeleifers eines ganzen Lebens flog an einem ein¬
zigen Auktionstage in alle Welt, etliches nach Rußland, etliches uach Amerika, aber
das meiste kam nach England, wo es ein steifer, Antiquitäten sammelnder Lord
in einem seiner Schlösser begrub.

An Feodor Zausch dachte kein Mensch mehr, außer Linchen, die getreulich an
den Nachmittagen, an denen sie sonst mit ihrem Feodor im Stadtgarten Kaffee
getrunken und Kuchen gegessen hatte, zum Kirchhofe hinausging und sich an sein
Grab setzte, häkelte und ihren Gedanken nachhing. Ein Gedanke war es, der ihr
immer klarer vor die Seele trat: Wenn alle die alten Fagotts und Baßgeigen
da unten im Grabe lägen statt ihres Feodors, oder wenn sie nie aus dem
Staube zusammengesucht worden wären, die Welt würde um nichts ärmer, sie
aber um vieles reicher geworden sein.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Jenseitiges.

Nietzsches leidenschaftlicher Kampf gegen die „Hinterweltler"
ist ein Schlag ins Wasser gewesen. Kaum zu irgend einer andern Zeit sind die
Menschen in den Mußestunden, die ihnen die Balgerei und Plackerei um Brot und
Geld frei läßt, so erpicht darauf gewesen, zu ergrübeln, was eigentlich hinter der
Welt der Erscheinungen steckt. Aus dem Haufen neuer Bücher, die dieser Grübelei
gewidmet sind, fischen wir ein paar Proben heraus. Karl August*) und
C. A. Friedrichs) greifen beide dem Weltwesen an die Nieren und fassen es
physikalisch an; jener konstruirt die Welt als ein System von Druck und Gegen¬
druck, dieser als einen Strom vom Zentrum ausgehenden und als einen Gegenstrom
zurückkehrenden Lebens. Mit Hilfe seines Mechanismus spinnt jeder von beiden
ans dem Weltwesen die Welt und die Menschheit samt Kunst und Wissenschaft,
Religion und Sittlichkeit und Politik heraus. Natürlich spinnt jeder nur heraus,
was er vorher hineingewickelt hat. Und so bekommt der zweite einen persönlichen
Gott (er geht, Wie wir, von der Überzeugung aus, daß die Ursache die Wirkung
enthalten, also größer und vollkommner sein müßte als diese, daß also der bewußte
Geist nicht aus einem unbewußten und noch weniger aus der Materie stammen
könne), während August nicht recht zu wissen scheint, ob er seinen Gott bewußt oder
unbewußt nennen soll. Er führt für die „Weltbausteine" die neue Bezeichnung




") Die Welt und ihre Umgebung, bei Paul Zillmann, Berlin-Zehlendorf, 1N>7.
*) Die Weltanschauung eines modernen Christen, Leipzig, Wilh. Friedrich, 1897.
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[0229] Maßgebliches und Unmaßgebliches Kaum war er tot, so kamen die entfernten Verwandten an, um den Ver¬ storbnen und seine Hinterlassenschaft in Besitz zu nehmen. Man setzte in die Zeitung einen fettgedruckten Nachruf und bestellte ein Begräbnis erster Klasse. Der Herr Archidicckonus, der die Trauerrede hielt, beschränkte sich, weil er von Feodor Zausch nicht viel in Erfahrung bringen konnte und mit dem, was er erfuhr, nicht viel anzufangen wußte, auf etliche altbewährte Gemeinplätze, und man ging wohl¬ getröstet nach Hause. schleunigst wurde die Musikalienhandlung und das Museum verkauft. Der Ertrag des Sammeleifers eines ganzen Lebens flog an einem ein¬ zigen Auktionstage in alle Welt, etliches nach Rußland, etliches uach Amerika, aber das meiste kam nach England, wo es ein steifer, Antiquitäten sammelnder Lord in einem seiner Schlösser begrub. An Feodor Zausch dachte kein Mensch mehr, außer Linchen, die getreulich an den Nachmittagen, an denen sie sonst mit ihrem Feodor im Stadtgarten Kaffee getrunken und Kuchen gegessen hatte, zum Kirchhofe hinausging und sich an sein Grab setzte, häkelte und ihren Gedanken nachhing. Ein Gedanke war es, der ihr immer klarer vor die Seele trat: Wenn alle die alten Fagotts und Baßgeigen da unten im Grabe lägen statt ihres Feodors, oder wenn sie nie aus dem Staube zusammengesucht worden wären, die Welt würde um nichts ärmer, sie aber um vieles reicher geworden sein. Maßgebliches und Unmaßgebliches Jenseitiges. Nietzsches leidenschaftlicher Kampf gegen die „Hinterweltler" ist ein Schlag ins Wasser gewesen. Kaum zu irgend einer andern Zeit sind die Menschen in den Mußestunden, die ihnen die Balgerei und Plackerei um Brot und Geld frei läßt, so erpicht darauf gewesen, zu ergrübeln, was eigentlich hinter der Welt der Erscheinungen steckt. Aus dem Haufen neuer Bücher, die dieser Grübelei gewidmet sind, fischen wir ein paar Proben heraus. Karl August*) und C. A. Friedrichs) greifen beide dem Weltwesen an die Nieren und fassen es physikalisch an; jener konstruirt die Welt als ein System von Druck und Gegen¬ druck, dieser als einen Strom vom Zentrum ausgehenden und als einen Gegenstrom zurückkehrenden Lebens. Mit Hilfe seines Mechanismus spinnt jeder von beiden ans dem Weltwesen die Welt und die Menschheit samt Kunst und Wissenschaft, Religion und Sittlichkeit und Politik heraus. Natürlich spinnt jeder nur heraus, was er vorher hineingewickelt hat. Und so bekommt der zweite einen persönlichen Gott (er geht, Wie wir, von der Überzeugung aus, daß die Ursache die Wirkung enthalten, also größer und vollkommner sein müßte als diese, daß also der bewußte Geist nicht aus einem unbewußten und noch weniger aus der Materie stammen könne), während August nicht recht zu wissen scheint, ob er seinen Gott bewußt oder unbewußt nennen soll. Er führt für die „Weltbausteine" die neue Bezeichnung ") Die Welt und ihre Umgebung, bei Paul Zillmann, Berlin-Zehlendorf, 1N>7. *) Die Weltanschauung eines modernen Christen, Leipzig, Wilh. Friedrich, 1897.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/229>, abgerufen am 12.12.2024.