Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Stimmenwert, nicht Stimmenzahl
Gustav Johannes Rrauß von

as allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht, das in politischen
Dingen den dümmsten Pfahlbürger so viel in die Wagschale
werfen läßt, wie den Fürsten Bismarck, gilt wohl keinem Ein¬
sichtigen für etwas andres als für den Ausdruck der Unmöglichkeit,
das schwierige und heikle Geschäft der Stimmenwertung praktisch
durchzuführen, zumal in der übersichtlichen, schematichen Form, in der sich
Wahlgeschäfte ihrer Natur nach nun einmal vollziehen müssen.

Ein vollkommnes Wahlrecht müßte dem einzelnen Staatsbürger soviel
Anteil an der Volksboden einräumen, wie er nach der Summe seiner Eigen¬
schaften verdient. Begabung, Bildung, Herkunft, Familienstand, Beruf, Besitz,
Einkommen, politische Einsicht -- alle diese Eigenschaften und noch eine Reihe
andrer müßten nach ihrer politischen Bedeutung geschätzt werden, und das Maß
des Wahlrechts, das dem Bürger zusteht, hätte sich dann nach der Anzahl
der Werteinheiten zu richten, die er in seiner Person vereinigt. Eine derartige
Schätzung ist freilich undurchführbar. Man kann höchstens die eine oder die
andre der meßbaren unter den in Betracht kommenden Eigenschaften als
Grundlage der Wahlrechtsstaffelung verwenden. Das ständische Wahlrecht,
sür das unsre Konservativen schwärmen, wäre im wesentlichen eine Gliederung
nach Herkunft und Beruf; das Steuerklassensystem stuft nach der Steuerleistung
ab, das heißt also nach Besitz und Einkommen; allenfalls könnte man sich
noch ein Wahlsystem nach Bildungsklnssen vorstellen, das dem Hochschulprofessor
das größte, dem Bauernknecht, der nur notdürftig lesen und schreiben kann,
das geringste Wahlrecht einräumte. Jedes dieser Systeme hat seine Vorzüge,
jedes seine Mängel. Und ihr gemeinsamer Mangel ist, daß sie gegen den dema¬
gogischen Vorwurf der Klasseuwirtschaft schwer verteidigt werden können.
Beruf, Besitz, Bildung tragen zum Werte des Mannes bei, aber sie bestimmen
ihn nicht allein. Eine Ordnung, die nach einem von den dreien die Rechte
abstuft, die sie zu verleihen hat, führt zu dem Mißstände, daß sehr häufig der
würdigere Mensch an Rechten hinter einem schlechtern zurücksteht und ihn in
seinem ganzen Leben nicht einholen kann. Das ist aber ungefähr das, was
unsre Demagogen als charakteristisches Merkmal der Klassenherrschaft bezeichnen.
Gegenüber diesen Schwierigkeiten war es der Weisheit letzter Schluß, auf jede




Stimmenwert, nicht Stimmenzahl
Gustav Johannes Rrauß von

as allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht, das in politischen
Dingen den dümmsten Pfahlbürger so viel in die Wagschale
werfen läßt, wie den Fürsten Bismarck, gilt wohl keinem Ein¬
sichtigen für etwas andres als für den Ausdruck der Unmöglichkeit,
das schwierige und heikle Geschäft der Stimmenwertung praktisch
durchzuführen, zumal in der übersichtlichen, schematichen Form, in der sich
Wahlgeschäfte ihrer Natur nach nun einmal vollziehen müssen.

Ein vollkommnes Wahlrecht müßte dem einzelnen Staatsbürger soviel
Anteil an der Volksboden einräumen, wie er nach der Summe seiner Eigen¬
schaften verdient. Begabung, Bildung, Herkunft, Familienstand, Beruf, Besitz,
Einkommen, politische Einsicht — alle diese Eigenschaften und noch eine Reihe
andrer müßten nach ihrer politischen Bedeutung geschätzt werden, und das Maß
des Wahlrechts, das dem Bürger zusteht, hätte sich dann nach der Anzahl
der Werteinheiten zu richten, die er in seiner Person vereinigt. Eine derartige
Schätzung ist freilich undurchführbar. Man kann höchstens die eine oder die
andre der meßbaren unter den in Betracht kommenden Eigenschaften als
Grundlage der Wahlrechtsstaffelung verwenden. Das ständische Wahlrecht,
sür das unsre Konservativen schwärmen, wäre im wesentlichen eine Gliederung
nach Herkunft und Beruf; das Steuerklassensystem stuft nach der Steuerleistung
ab, das heißt also nach Besitz und Einkommen; allenfalls könnte man sich
noch ein Wahlsystem nach Bildungsklnssen vorstellen, das dem Hochschulprofessor
das größte, dem Bauernknecht, der nur notdürftig lesen und schreiben kann,
das geringste Wahlrecht einräumte. Jedes dieser Systeme hat seine Vorzüge,
jedes seine Mängel. Und ihr gemeinsamer Mangel ist, daß sie gegen den dema¬
gogischen Vorwurf der Klasseuwirtschaft schwer verteidigt werden können.
Beruf, Besitz, Bildung tragen zum Werte des Mannes bei, aber sie bestimmen
ihn nicht allein. Eine Ordnung, die nach einem von den dreien die Rechte
abstuft, die sie zu verleihen hat, führt zu dem Mißstände, daß sehr häufig der
würdigere Mensch an Rechten hinter einem schlechtern zurücksteht und ihn in
seinem ganzen Leben nicht einholen kann. Das ist aber ungefähr das, was
unsre Demagogen als charakteristisches Merkmal der Klassenherrschaft bezeichnen.
Gegenüber diesen Schwierigkeiten war es der Weisheit letzter Schluß, auf jede


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228111"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341867_227635/figures/grenzboten_341867_227635_228111_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Stimmenwert, nicht Stimmenzahl<lb/><note type="byline"> Gustav Johannes Rrauß</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1301"> as allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht, das in politischen<lb/>
Dingen den dümmsten Pfahlbürger so viel in die Wagschale<lb/>
werfen läßt, wie den Fürsten Bismarck, gilt wohl keinem Ein¬<lb/>
sichtigen für etwas andres als für den Ausdruck der Unmöglichkeit,<lb/>
das schwierige und heikle Geschäft der Stimmenwertung praktisch<lb/>
durchzuführen, zumal in der übersichtlichen, schematichen Form, in der sich<lb/>
Wahlgeschäfte ihrer Natur nach nun einmal vollziehen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1302" next="#ID_1303"> Ein vollkommnes Wahlrecht müßte dem einzelnen Staatsbürger soviel<lb/>
Anteil an der Volksboden einräumen, wie er nach der Summe seiner Eigen¬<lb/>
schaften verdient. Begabung, Bildung, Herkunft, Familienstand, Beruf, Besitz,<lb/>
Einkommen, politische Einsicht &#x2014; alle diese Eigenschaften und noch eine Reihe<lb/>
andrer müßten nach ihrer politischen Bedeutung geschätzt werden, und das Maß<lb/>
des Wahlrechts, das dem Bürger zusteht, hätte sich dann nach der Anzahl<lb/>
der Werteinheiten zu richten, die er in seiner Person vereinigt. Eine derartige<lb/>
Schätzung ist freilich undurchführbar. Man kann höchstens die eine oder die<lb/>
andre der meßbaren unter den in Betracht kommenden Eigenschaften als<lb/>
Grundlage der Wahlrechtsstaffelung verwenden. Das ständische Wahlrecht,<lb/>
sür das unsre Konservativen schwärmen, wäre im wesentlichen eine Gliederung<lb/>
nach Herkunft und Beruf; das Steuerklassensystem stuft nach der Steuerleistung<lb/>
ab, das heißt also nach Besitz und Einkommen; allenfalls könnte man sich<lb/>
noch ein Wahlsystem nach Bildungsklnssen vorstellen, das dem Hochschulprofessor<lb/>
das größte, dem Bauernknecht, der nur notdürftig lesen und schreiben kann,<lb/>
das geringste Wahlrecht einräumte. Jedes dieser Systeme hat seine Vorzüge,<lb/>
jedes seine Mängel. Und ihr gemeinsamer Mangel ist, daß sie gegen den dema¬<lb/>
gogischen Vorwurf der Klasseuwirtschaft schwer verteidigt werden können.<lb/>
Beruf, Besitz, Bildung tragen zum Werte des Mannes bei, aber sie bestimmen<lb/>
ihn nicht allein. Eine Ordnung, die nach einem von den dreien die Rechte<lb/>
abstuft, die sie zu verleihen hat, führt zu dem Mißstände, daß sehr häufig der<lb/>
würdigere Mensch an Rechten hinter einem schlechtern zurücksteht und ihn in<lb/>
seinem ganzen Leben nicht einholen kann. Das ist aber ungefähr das, was<lb/>
unsre Demagogen als charakteristisches Merkmal der Klassenherrschaft bezeichnen.<lb/>
Gegenüber diesen Schwierigkeiten war es der Weisheit letzter Schluß, auf jede</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] [Abbildung] Stimmenwert, nicht Stimmenzahl Gustav Johannes Rrauß von as allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht, das in politischen Dingen den dümmsten Pfahlbürger so viel in die Wagschale werfen läßt, wie den Fürsten Bismarck, gilt wohl keinem Ein¬ sichtigen für etwas andres als für den Ausdruck der Unmöglichkeit, das schwierige und heikle Geschäft der Stimmenwertung praktisch durchzuführen, zumal in der übersichtlichen, schematichen Form, in der sich Wahlgeschäfte ihrer Natur nach nun einmal vollziehen müssen. Ein vollkommnes Wahlrecht müßte dem einzelnen Staatsbürger soviel Anteil an der Volksboden einräumen, wie er nach der Summe seiner Eigen¬ schaften verdient. Begabung, Bildung, Herkunft, Familienstand, Beruf, Besitz, Einkommen, politische Einsicht — alle diese Eigenschaften und noch eine Reihe andrer müßten nach ihrer politischen Bedeutung geschätzt werden, und das Maß des Wahlrechts, das dem Bürger zusteht, hätte sich dann nach der Anzahl der Werteinheiten zu richten, die er in seiner Person vereinigt. Eine derartige Schätzung ist freilich undurchführbar. Man kann höchstens die eine oder die andre der meßbaren unter den in Betracht kommenden Eigenschaften als Grundlage der Wahlrechtsstaffelung verwenden. Das ständische Wahlrecht, sür das unsre Konservativen schwärmen, wäre im wesentlichen eine Gliederung nach Herkunft und Beruf; das Steuerklassensystem stuft nach der Steuerleistung ab, das heißt also nach Besitz und Einkommen; allenfalls könnte man sich noch ein Wahlsystem nach Bildungsklnssen vorstellen, das dem Hochschulprofessor das größte, dem Bauernknecht, der nur notdürftig lesen und schreiben kann, das geringste Wahlrecht einräumte. Jedes dieser Systeme hat seine Vorzüge, jedes seine Mängel. Und ihr gemeinsamer Mangel ist, daß sie gegen den dema¬ gogischen Vorwurf der Klasseuwirtschaft schwer verteidigt werden können. Beruf, Besitz, Bildung tragen zum Werte des Mannes bei, aber sie bestimmen ihn nicht allein. Eine Ordnung, die nach einem von den dreien die Rechte abstuft, die sie zu verleihen hat, führt zu dem Mißstände, daß sehr häufig der würdigere Mensch an Rechten hinter einem schlechtern zurücksteht und ihn in seinem ganzen Leben nicht einholen kann. Das ist aber ungefähr das, was unsre Demagogen als charakteristisches Merkmal der Klassenherrschaft bezeichnen. Gegenüber diesen Schwierigkeiten war es der Weisheit letzter Schluß, auf jede

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/475>, abgerufen am 26.12.2024.