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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die Flucht vom Lande

skeptisch zu sein, hier aber kommt es auf ein paar tausend Exemplare mehr
oder weniger gar nicht einmal an. Es wird demnach zugegeben werden müssen,
daß unser warnender Ruf berechtigt war; oder wird jemand im Ernst Johanna
Ambrosius auf dieselbe Stufe mit Eduard Mörike oder mit dem Dichter der
"Elisabeth." der "Nachtigall," der "Stadt am Meer" heben?

Wir stellen unsre Meinung nicht als ein Apostolikum hin und überlassen
es einem jeden, ob er ihr beipflichten wolle oder nicht. Das Recht aber, ein
unabhängiges Urteil zu fällen, lassen wir uns auch von unsern Gegnern nicht
verkümmern. Wohin soll eine so unerhörte Bevormundung von Publikum und
Kritik führen, wie sie von seiten der Herren <schrattenthal und Genossen aus¬
geübt wird? Die scharfen Bemerkungen der von ihnen "herausgegebnen"
Dichter über die Kritiker, die mit Reserve loben oder sich gar erlauben, ein
von dem großen Schwärme durchaus abweichendes Urteil zu haben, kehren so
regelmäßig wieder, daß man nur annehmen kann, es läge eine Art Verhetzung
vor. Fast in der gesamten Presse Deutschlands ist für Johanna Ambrosius
eine beispiellose Reklame gemacht worden, trotzdem erklärt die Dichterin, daß
sie gar nicht für "Kritikerohren" geschrieben habe, und neuerdings versteigt sie
sich in den,, Gedichten "Was wollt ihr" und "Es sind die schlechtsten Früchte
nicht" zu Äußerungen, die als ungehörig zurückgewiesen werden müssen. Da
ist die Rede von den "Krähen," die ihr "teuflisch Gericht" halten, von dem
"Gezeter" der "Höllengestalten," von den "kleinen, dummen Wiesler," die
"doch auch leben wollen" usw. Warum muß neidisch und mitleidlos sein, wem
die Gesamtheit mehr gilt als das Schicksal eines Einzelnen? Wir geben Johanna
Ambrosius, was der Johanna Ambrosius ist, behaupten aber, daß sie höchstens
ein Stern zweiter Größe ist, und daß man sie dereinst anch als einen solchen
erkennen und bezeichnen wird. Mit dem einst ist uns aber nicht gedient.
Herdengeschmack und Modethorheiten waren immer und sind auch heute eine
große Gefahr für das künstlerische Leben eines Volkes, und wer hätte in
höherm Maße Recht und Pflicht, sie zu bekämpfen als die Kritik? Jedermann
im lieben deutschen Vaterlande aber darf, solange er nicht mit dem Strafgesetz¬
buch in Konflikt gerät, frei seine Meinung äußern. Und dem Kritiker wollte
A. ". man es verwehren?




Die Flucht vom Tande
i

man vor sechsundzwanzig Jahren, das heißt vom 29, April bis
1. Mai 1872, tagte in Berlin eine "Konferenz ländlicher Arbeit¬
geber." Die von ihr für die Behandlung der landwirtschaftlichen
Arbeiterfrage aufgestellten Grundsätze sind ein ehrenvolles Zeugnis
von dem Verständnis der Konfercnzinitglieder und ihrem guten
Willen, zu helfen, wo Hilfe not thut, und sie sind auch heute noch
als das beste Programm praktischer Reformen der ländlichen Arbeiterverhältnisse,
namentlich für Nord- und Ostdeutschland, zu bezeichnen, um so mehr, als leider von


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skeptisch zu sein, hier aber kommt es auf ein paar tausend Exemplare mehr
oder weniger gar nicht einmal an. Es wird demnach zugegeben werden müssen,
daß unser warnender Ruf berechtigt war; oder wird jemand im Ernst Johanna
Ambrosius auf dieselbe Stufe mit Eduard Mörike oder mit dem Dichter der
„Elisabeth." der „Nachtigall," der „Stadt am Meer" heben?

Wir stellen unsre Meinung nicht als ein Apostolikum hin und überlassen
es einem jeden, ob er ihr beipflichten wolle oder nicht. Das Recht aber, ein
unabhängiges Urteil zu fällen, lassen wir uns auch von unsern Gegnern nicht
verkümmern. Wohin soll eine so unerhörte Bevormundung von Publikum und
Kritik führen, wie sie von seiten der Herren <schrattenthal und Genossen aus¬
geübt wird? Die scharfen Bemerkungen der von ihnen „herausgegebnen"
Dichter über die Kritiker, die mit Reserve loben oder sich gar erlauben, ein
von dem großen Schwärme durchaus abweichendes Urteil zu haben, kehren so
regelmäßig wieder, daß man nur annehmen kann, es läge eine Art Verhetzung
vor. Fast in der gesamten Presse Deutschlands ist für Johanna Ambrosius
eine beispiellose Reklame gemacht worden, trotzdem erklärt die Dichterin, daß
sie gar nicht für „Kritikerohren" geschrieben habe, und neuerdings versteigt sie
sich in den,, Gedichten „Was wollt ihr" und „Es sind die schlechtsten Früchte
nicht" zu Äußerungen, die als ungehörig zurückgewiesen werden müssen. Da
ist die Rede von den „Krähen," die ihr „teuflisch Gericht" halten, von dem
„Gezeter" der „Höllengestalten," von den „kleinen, dummen Wiesler," die
„doch auch leben wollen" usw. Warum muß neidisch und mitleidlos sein, wem
die Gesamtheit mehr gilt als das Schicksal eines Einzelnen? Wir geben Johanna
Ambrosius, was der Johanna Ambrosius ist, behaupten aber, daß sie höchstens
ein Stern zweiter Größe ist, und daß man sie dereinst anch als einen solchen
erkennen und bezeichnen wird. Mit dem einst ist uns aber nicht gedient.
Herdengeschmack und Modethorheiten waren immer und sind auch heute eine
große Gefahr für das künstlerische Leben eines Volkes, und wer hätte in
höherm Maße Recht und Pflicht, sie zu bekämpfen als die Kritik? Jedermann
im lieben deutschen Vaterlande aber darf, solange er nicht mit dem Strafgesetz¬
buch in Konflikt gerät, frei seine Meinung äußern. Und dem Kritiker wollte
A. «. man es verwehren?




Die Flucht vom Tande
i

man vor sechsundzwanzig Jahren, das heißt vom 29, April bis
1. Mai 1872, tagte in Berlin eine „Konferenz ländlicher Arbeit¬
geber." Die von ihr für die Behandlung der landwirtschaftlichen
Arbeiterfrage aufgestellten Grundsätze sind ein ehrenvolles Zeugnis
von dem Verständnis der Konfercnzinitglieder und ihrem guten
Willen, zu helfen, wo Hilfe not thut, und sie sind auch heute noch
als das beste Programm praktischer Reformen der ländlichen Arbeiterverhältnisse,
namentlich für Nord- und Ostdeutschland, zu bezeichnen, um so mehr, als leider von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/254>, abgerufen am 23.07.2024.