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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

industrieller Arbeiter, die doch eben Nahrungsmittel verzehren und wohnen müssen,
muh der Landwirtschaft aufhilft, so empfiehlt der Verfasser dieser wechselseitigen,
wohlthätigen Doppelwirknng wegen dringend und mit' Recht die Dezentralisiruug
der Industrie. Die Aristokraten unter den zehn sind zwei Maschinenbauer -mit
1957 und 2019 Mark Jahreseinnahmen; dann folgen ein Tapezierer, dein die
Frau verdienen hilft, mit 179V Mark, ein Klempnergeselle mit 1535 Mark, ein
Schlosser mit 1516 Mark, ein Schneider, dessen Frau mit schneidert, mit 1445 Mark,
ein Landwirtschaft treibender Maurergeselle mit 1344 Mark Jahreseinnahme; die
übrigen dreizehn bewegen sich zwischen 1100 und 741 Mark. Der mit 2019 Mark
verdient eigentlich nur 1700 Mark, die übrigen 300 bringen Frau und Kiuder
durch Kartonagearbeit auf. Die Leute haben früher in der Stadt gewohnt, wo
es ihnen sehr schlecht gegangen ist; jetzt, ans dem Lande, haben sie sich so erholt,
daß sie im Jahre über 100 Mark zurücklegen und einen talentvollen Sohn aufs
Gymnasium der benachbarten Stadt schicken können. Der andre Maschinenbauer,
der einschließlich seiner Sonntagsarbeit, die in Zeichnen besteht, 1957 Mark ver¬
dient, lebt in der Großstadt und muß für Wohnung allein 450 Mark geben; noch
dazu gilt diese als außerordentlich wohlfeil und wird, weil der bisher einsamen
Straße der Verkehr näher rückt, nächstens mehr kosten. Die Leute sind beide aus
guter Familie; er hat die Realschule besucht und als Einjährig-Freiwilliger gedient.
Es ist leicht einzusehen, daß diese Leute -- sie haben vier Kinder von ein bis
neun Jahren -- bei längerer Krankheit oder Arbeitslosigkeit des einzigen Ernährers
in große Not geraten und vielleicht den Boden unter den Füßen verlieren würden.
Was es bei einem Einkommen von durchschnittlich 1000 Mark für einen Unter¬
schied macht, ob zwei oder vier oder acht Personen davon zu nähren und zu
kleiden sind, braucht nicht ausgeführt zu werde"; hat sich eine zahlreiche Familie
durchgekämpft, bis die Kiuder mit verdienen helfen, so kann sie sich ja dann noch
erholen.


Denkdummheiten. Merkworte zur geistigen Selbstzucht. Avr Dr. Georg Biedenkapv.
Leipzig. C. G. Nnumnnn, l.M"

Das Motto des kleinen Buches ist Pestalozzi entnommen: "Das Sprachver¬
derbnis unsers Zeitalters und unser einseitiges, oberflächliches, gebauten- und an-
schnuuugsloses Maulbraucheu muß zuerst zu Tode gebracht werden." Der Verfasser
bringt die zu Denkdummheiten verteilenden Sprachdnmmheiten unter die Rubriken:
Superlativismus, Mittelpunktswahn, Winkelweisheit, Sprachfallen. Er verehrt
Nietzsche und Dühring, ist aber ein selbständiger Denker; sein Büchlein kann einige"
Nutzen stiften.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Mnrquart in Leipzig
Litteratur

industrieller Arbeiter, die doch eben Nahrungsmittel verzehren und wohnen müssen,
muh der Landwirtschaft aufhilft, so empfiehlt der Verfasser dieser wechselseitigen,
wohlthätigen Doppelwirknng wegen dringend und mit' Recht die Dezentralisiruug
der Industrie. Die Aristokraten unter den zehn sind zwei Maschinenbauer -mit
1957 und 2019 Mark Jahreseinnahmen; dann folgen ein Tapezierer, dein die
Frau verdienen hilft, mit 179V Mark, ein Klempnergeselle mit 1535 Mark, ein
Schlosser mit 1516 Mark, ein Schneider, dessen Frau mit schneidert, mit 1445 Mark,
ein Landwirtschaft treibender Maurergeselle mit 1344 Mark Jahreseinnahme; die
übrigen dreizehn bewegen sich zwischen 1100 und 741 Mark. Der mit 2019 Mark
verdient eigentlich nur 1700 Mark, die übrigen 300 bringen Frau und Kiuder
durch Kartonagearbeit auf. Die Leute haben früher in der Stadt gewohnt, wo
es ihnen sehr schlecht gegangen ist; jetzt, ans dem Lande, haben sie sich so erholt,
daß sie im Jahre über 100 Mark zurücklegen und einen talentvollen Sohn aufs
Gymnasium der benachbarten Stadt schicken können. Der andre Maschinenbauer,
der einschließlich seiner Sonntagsarbeit, die in Zeichnen besteht, 1957 Mark ver¬
dient, lebt in der Großstadt und muß für Wohnung allein 450 Mark geben; noch
dazu gilt diese als außerordentlich wohlfeil und wird, weil der bisher einsamen
Straße der Verkehr näher rückt, nächstens mehr kosten. Die Leute sind beide aus
guter Familie; er hat die Realschule besucht und als Einjährig-Freiwilliger gedient.
Es ist leicht einzusehen, daß diese Leute — sie haben vier Kinder von ein bis
neun Jahren — bei längerer Krankheit oder Arbeitslosigkeit des einzigen Ernährers
in große Not geraten und vielleicht den Boden unter den Füßen verlieren würden.
Was es bei einem Einkommen von durchschnittlich 1000 Mark für einen Unter¬
schied macht, ob zwei oder vier oder acht Personen davon zu nähren und zu
kleiden sind, braucht nicht ausgeführt zu werde»; hat sich eine zahlreiche Familie
durchgekämpft, bis die Kiuder mit verdienen helfen, so kann sie sich ja dann noch
erholen.


Denkdummheiten. Merkworte zur geistigen Selbstzucht. Avr Dr. Georg Biedenkapv.
Leipzig. C. G. Nnumnnn, l.M»

Das Motto des kleinen Buches ist Pestalozzi entnommen: „Das Sprachver¬
derbnis unsers Zeitalters und unser einseitiges, oberflächliches, gebauten- und an-
schnuuugsloses Maulbraucheu muß zuerst zu Tode gebracht werden." Der Verfasser
bringt die zu Denkdummheiten verteilenden Sprachdnmmheiten unter die Rubriken:
Superlativismus, Mittelpunktswahn, Winkelweisheit, Sprachfallen. Er verehrt
Nietzsche und Dühring, ist aber ein selbständiger Denker; sein Büchlein kann einige»
Nutzen stiften.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrquart in Leipzig
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[0728] Litteratur industrieller Arbeiter, die doch eben Nahrungsmittel verzehren und wohnen müssen, muh der Landwirtschaft aufhilft, so empfiehlt der Verfasser dieser wechselseitigen, wohlthätigen Doppelwirknng wegen dringend und mit' Recht die Dezentralisiruug der Industrie. Die Aristokraten unter den zehn sind zwei Maschinenbauer -mit 1957 und 2019 Mark Jahreseinnahmen; dann folgen ein Tapezierer, dein die Frau verdienen hilft, mit 179V Mark, ein Klempnergeselle mit 1535 Mark, ein Schlosser mit 1516 Mark, ein Schneider, dessen Frau mit schneidert, mit 1445 Mark, ein Landwirtschaft treibender Maurergeselle mit 1344 Mark Jahreseinnahme; die übrigen dreizehn bewegen sich zwischen 1100 und 741 Mark. Der mit 2019 Mark verdient eigentlich nur 1700 Mark, die übrigen 300 bringen Frau und Kiuder durch Kartonagearbeit auf. Die Leute haben früher in der Stadt gewohnt, wo es ihnen sehr schlecht gegangen ist; jetzt, ans dem Lande, haben sie sich so erholt, daß sie im Jahre über 100 Mark zurücklegen und einen talentvollen Sohn aufs Gymnasium der benachbarten Stadt schicken können. Der andre Maschinenbauer, der einschließlich seiner Sonntagsarbeit, die in Zeichnen besteht, 1957 Mark ver¬ dient, lebt in der Großstadt und muß für Wohnung allein 450 Mark geben; noch dazu gilt diese als außerordentlich wohlfeil und wird, weil der bisher einsamen Straße der Verkehr näher rückt, nächstens mehr kosten. Die Leute sind beide aus guter Familie; er hat die Realschule besucht und als Einjährig-Freiwilliger gedient. Es ist leicht einzusehen, daß diese Leute — sie haben vier Kinder von ein bis neun Jahren — bei längerer Krankheit oder Arbeitslosigkeit des einzigen Ernährers in große Not geraten und vielleicht den Boden unter den Füßen verlieren würden. Was es bei einem Einkommen von durchschnittlich 1000 Mark für einen Unter¬ schied macht, ob zwei oder vier oder acht Personen davon zu nähren und zu kleiden sind, braucht nicht ausgeführt zu werde»; hat sich eine zahlreiche Familie durchgekämpft, bis die Kiuder mit verdienen helfen, so kann sie sich ja dann noch erholen. Denkdummheiten. Merkworte zur geistigen Selbstzucht. Avr Dr. Georg Biedenkapv. Leipzig. C. G. Nnumnnn, l.M» Das Motto des kleinen Buches ist Pestalozzi entnommen: „Das Sprachver¬ derbnis unsers Zeitalters und unser einseitiges, oberflächliches, gebauten- und an- schnuuugsloses Maulbraucheu muß zuerst zu Tode gebracht werden." Der Verfasser bringt die zu Denkdummheiten verteilenden Sprachdnmmheiten unter die Rubriken: Superlativismus, Mittelpunktswahn, Winkelweisheit, Sprachfallen. Er verehrt Nietzsche und Dühring, ist aber ein selbständiger Denker; sein Büchlein kann einige» Nutzen stiften. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/728>, abgerufen am 05.01.2025.