Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches aus, er ist vielmehr ihre gemeinsame Wurzel. Was sich in der Furcht vor den Modernstes in Dichtung und Stil. Die "modernsten" Dichterjünglinge, Maßgebliches und Unmaßgebliches aus, er ist vielmehr ihre gemeinsame Wurzel. Was sich in der Furcht vor den Modernstes in Dichtung und Stil. Die „modernsten" Dichterjünglinge, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0104" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226336"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_237" prev="#ID_236"> aus, er ist vielmehr ihre gemeinsame Wurzel. Was sich in der Furcht vor den<lb/> Römern wie in der Erbitterung der gekränkten privilegirten Lehrerzunft und in<lb/> der Wut der Massen über ihre getäuschten Messiashoffnuugcu äußerte, das war<lb/> doch eben das weltliche, das irdische Interesse, und dieses würde Jesum umgebracht<lb/> haben, auch wenn die politischen Verhältnisse ganz unters gewesen wären. Oder<lb/> vermag wohl irgend jemand zu glauben, daß Jesus zu irgend einer andern Zeit,<lb/> in irgend einem andern Lande, unter irgend welchen andern politischen Verhältnissen<lb/> etwas andres gepredigt haben würde als das ausschließliche Streben nach dem<lb/> Reiche Gottes, Gleichgiltigkeit gegen die irdischen Interessen, Verachtung des Reich¬<lb/> tums? daß er die nach Reichtum und Macht strebenden Großen und die General¬<lb/> pächter der Frömmigkeit und Gerechtigkeit (Sittlichkeit neunt mans heute) glimpf¬<lb/> licher behandelt haben würde, und daß die Herrschenden durch solche Lehren sich<lb/> nicht gekränkt und die bürgerliche Ordnung nicht bedroht erachtet haben würden?</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Modernstes in Dichtung und Stil.</head> <p xml:id="ID_238" next="#ID_239"> Die „modernsten" Dichterjünglinge,<lb/> die von der Gegenwart Bewunderung fordern für erhabne Werke, die sie vielleicht<lb/> dereinst zu schaffen die Güte haben könnten, scheinen auch in Wien üppig zu<lb/> wuchern. Darauf läßt ein dort (nicht im Buchhandel) erschienenes Büchlein<lb/> schließen: „Hinter dem Leben," dessen leider ungenannter Verfasser das Kunststück<lb/> vollbracht hat, zu parodiren, was schon Parodie ist. Dichter mit erfundnen, aber<lb/> in Wien offenbar leicht kenntlichen Namen bieten da selbstgefällig ihr Unkraut dar,<lb/> und auch wer nichts von den verspöttelten Originalen weiß, muß an dem Spott<lb/> über die ganze Gattung seine helle Frende haben. Wir erfahren da, daß Gym¬<lb/> nasiasten, die einen andauernden Abscheu gegen alles Lernen an den Tag legen,<lb/> die stundenlang dasitzen können ohne zu sprechen, ja ohne etwas zu deuten, mit<lb/> voller Sicherheit als angehende Dichter zu erkennen sind. Sie haben selbstver¬<lb/> ständlich grenzenlose Verachtung für alles, was vor ihnen gedichtet worden ist, und<lb/> für Menschen, wie einer aus der Gilde gesagt habe» soll, „die Schiller und die Garten¬<lb/> laube lesen." Die Dichter sind, wie uicht erst Verhindert zu werden braucht,<lb/> Naturalisten und wählen gleich ihren malenden Gesinnungsgenossen ihre Stoffe am<lb/> liebsten aus dem Bereiche, für den man in Zeiten der Unbildung den Ausdruck<lb/> hatte, „was sich uicht singen und sagen läßt." Doch werden Berührungen mit<lb/> der Reinlichkeit nicht grundsätzlich vermieden, wenn es wahr ist, daß ein besonders<lb/> hervorragender Poet ein Drama „Die Nagelschere" vollendet hat und an einem<lb/> zweiten „Die Zahnbürste" arbeitet. Den althergebrachten Dichtnngsformen müssen<lb/> sie so viel als möglich aus dem Wege gehen, doch haben sie dem Jean-Paulschen<lb/> Streckverse neues Leben verschafft. Proben aus „Hinter dem Leben" mitzuteilen<lb/> müssen wir nus versagen, weil „Nachdruck verboten" ist. Hoffentlich entschließt<lb/> sich der Versasser zu einer neuen, allgemein zugänglichen Auslage, und für eine<lb/> solche erlauben wir uns ihn auf einen Punkt aufmerksam zu machen. Er scheint<lb/> sür seine Vorbilder auch den originellen Stil als eigne Erfindung in Anspruch zu<lb/> nehmen. Das wäre ein Irrtum. Das Aneinanderreihen von zerhackten Sätzen<lb/> und Satzteilen, die der geneigte Leser in logische Verbindung zu bringen versuchen<lb/> darf — diesen angenehmen Uixsä-xiclilos-Stil haben sie „keinem geringern" als<lb/> Professor Herman Grimm in Berlin entlehnt. Jede Verkündigung des großen<lb/> Litteratur- und Kunstgelehrten, ohne den Deutschland weder für Shakespeare, noch<lb/> sür Raffael, noch für Goethe Verständnis haben würde, verschafft uns ja neues<lb/> stilistisches Ergötzen. So darf man in den neuesten Aufsatz Grimms „Zum sieb¬<lb/> zigsten Geburtstage Arnold Böcklins" blind hineineingreifen und wird immer</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0104]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
aus, er ist vielmehr ihre gemeinsame Wurzel. Was sich in der Furcht vor den
Römern wie in der Erbitterung der gekränkten privilegirten Lehrerzunft und in
der Wut der Massen über ihre getäuschten Messiashoffnuugcu äußerte, das war
doch eben das weltliche, das irdische Interesse, und dieses würde Jesum umgebracht
haben, auch wenn die politischen Verhältnisse ganz unters gewesen wären. Oder
vermag wohl irgend jemand zu glauben, daß Jesus zu irgend einer andern Zeit,
in irgend einem andern Lande, unter irgend welchen andern politischen Verhältnissen
etwas andres gepredigt haben würde als das ausschließliche Streben nach dem
Reiche Gottes, Gleichgiltigkeit gegen die irdischen Interessen, Verachtung des Reich¬
tums? daß er die nach Reichtum und Macht strebenden Großen und die General¬
pächter der Frömmigkeit und Gerechtigkeit (Sittlichkeit neunt mans heute) glimpf¬
licher behandelt haben würde, und daß die Herrschenden durch solche Lehren sich
nicht gekränkt und die bürgerliche Ordnung nicht bedroht erachtet haben würden?
Modernstes in Dichtung und Stil. Die „modernsten" Dichterjünglinge,
die von der Gegenwart Bewunderung fordern für erhabne Werke, die sie vielleicht
dereinst zu schaffen die Güte haben könnten, scheinen auch in Wien üppig zu
wuchern. Darauf läßt ein dort (nicht im Buchhandel) erschienenes Büchlein
schließen: „Hinter dem Leben," dessen leider ungenannter Verfasser das Kunststück
vollbracht hat, zu parodiren, was schon Parodie ist. Dichter mit erfundnen, aber
in Wien offenbar leicht kenntlichen Namen bieten da selbstgefällig ihr Unkraut dar,
und auch wer nichts von den verspöttelten Originalen weiß, muß an dem Spott
über die ganze Gattung seine helle Frende haben. Wir erfahren da, daß Gym¬
nasiasten, die einen andauernden Abscheu gegen alles Lernen an den Tag legen,
die stundenlang dasitzen können ohne zu sprechen, ja ohne etwas zu deuten, mit
voller Sicherheit als angehende Dichter zu erkennen sind. Sie haben selbstver¬
ständlich grenzenlose Verachtung für alles, was vor ihnen gedichtet worden ist, und
für Menschen, wie einer aus der Gilde gesagt habe» soll, „die Schiller und die Garten¬
laube lesen." Die Dichter sind, wie uicht erst Verhindert zu werden braucht,
Naturalisten und wählen gleich ihren malenden Gesinnungsgenossen ihre Stoffe am
liebsten aus dem Bereiche, für den man in Zeiten der Unbildung den Ausdruck
hatte, „was sich uicht singen und sagen läßt." Doch werden Berührungen mit
der Reinlichkeit nicht grundsätzlich vermieden, wenn es wahr ist, daß ein besonders
hervorragender Poet ein Drama „Die Nagelschere" vollendet hat und an einem
zweiten „Die Zahnbürste" arbeitet. Den althergebrachten Dichtnngsformen müssen
sie so viel als möglich aus dem Wege gehen, doch haben sie dem Jean-Paulschen
Streckverse neues Leben verschafft. Proben aus „Hinter dem Leben" mitzuteilen
müssen wir nus versagen, weil „Nachdruck verboten" ist. Hoffentlich entschließt
sich der Versasser zu einer neuen, allgemein zugänglichen Auslage, und für eine
solche erlauben wir uns ihn auf einen Punkt aufmerksam zu machen. Er scheint
sür seine Vorbilder auch den originellen Stil als eigne Erfindung in Anspruch zu
nehmen. Das wäre ein Irrtum. Das Aneinanderreihen von zerhackten Sätzen
und Satzteilen, die der geneigte Leser in logische Verbindung zu bringen versuchen
darf — diesen angenehmen Uixsä-xiclilos-Stil haben sie „keinem geringern" als
Professor Herman Grimm in Berlin entlehnt. Jede Verkündigung des großen
Litteratur- und Kunstgelehrten, ohne den Deutschland weder für Shakespeare, noch
sür Raffael, noch für Goethe Verständnis haben würde, verschafft uns ja neues
stilistisches Ergötzen. So darf man in den neuesten Aufsatz Grimms „Zum sieb¬
zigsten Geburtstage Arnold Böcklins" blind hineineingreifen und wird immer
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