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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

zieht den Gewinn daraus- Das Allgemeine Landrecht hat aber jedem hieraus
abgeleiteten Bereicherungsanspruch einen Riegel vorgeschoben mit der Vorschrift,
daß es keinerlei Bereicherungsklage giebt, wo die Beziehungen der Parteien
durch Vertrag geregelt sind, in diesem Fall also durch den Werkvertrag
zwischen Handwerker und Bauunternehmer einerseits und den Kauf- und Dar-
lehnsvertrag zwischen Bauunternehmer und Geldgeber andrerseits. Z 812 des
bürgerlichen Gesetzbuchs enthält diese Schranke nicht: die Worte "ohne recht¬
lichen Grund" lassen sehr wohl eine Deutung auf das sittliche oder wirtschaft¬
liche Recht im Gegensatze zu den geschriebnen Vertragsparagraphen zu. Es
liegt auf der Hand, welch ungeheure Tragweite die so verstandne Vorschrift
für alle Fälle hat, wo das "natürliche" Recht, die Billigkeit, durch ein Netz
von Vertragsbestimmungen ausgesperrt wird.

Freilich ist es nun keine Frage, daß sehr vielen Juristen diese Ausdehnung
der Bereicherungsklage ein Greuel sein wird, und daß man in den Worten
"ohne rechtlichen Grund" die erwähnte landrechtliche Schranke wird wieder¬
erkennen wollen; aber gegen die juristische Zulüssigkeit der hier entwickelten
Auslegung wird sich wenig einwenden lassen, vor allem deshalb, weil sie im
Einklange steht mit den angeführten Grundsätzen des bürgerlichen Gesetzbuchs
und dem darin hervortretenden Bestreben, die Herrschaft des Buchstabens zu
brechen. Welche der beiden Auffassungen dem volksmüßigen Rechtsgefühl mehr
entspricht, wird nicht schwer zu beantworten sein; welche von beiden durch¬
dringen wird, ist eine Frage der künftigen Nechtsentwicklung. Man sieht
daraus, daß das bürgerliche Gesetzbuch, weit entfernt, jede künftige Entwicklung
durch starre Vorschriften abzuschneiden, vielmehr die Möglichkeit bietet, in der
Praxis dem gemeinen Rechtsgefühl über allzu ängstlich-juristische Achtung vor
Verträgen zum Siege zu verhelfen. Aufgabe und Ziel der Rechtsprechung
wird es sein, nicht "zwischen starrem Buchstabendienst und bodenloser Willkür"
hin- und herzuschwanken, wie Professor Gierke befürchtete, sondern die richtige
Mitte zu finden, die die notwendige Sicherheit des Verkehrs mit den Anforde¬
rungen der Billigkeit in Einklang setzt.


6

Damit ist die Rechtsprechung vor eine ganz andre Aufgabe gestellt als
bisher. Die Gesetzgeber, die das Allgemeine Landrecht schufen, hatten geglaubt,
die Jurisprudenz ganz entbehren zu können; man gab sich der Hoffnung hin,
die Ziele der damaligen Kodifikation ("Herstellung eines sichern und zweifels¬
freien Rechtszustandes, Beseitigung der Kontroversen, Gemeinverständlichkeit
der Fassung") seien so vollständig erreicht, daß fortan auch der Ungelehrte im¬
stande sein werde, durch einen Blick in das Landrecht kein Recht selbst zu
finden. Deshalb bestimmte das Landrecht auch ausdrücklich: "Es ist ein jeder
Einwohner des Staats sich um die Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und


Einiges von der deutschen Rechtseinheit

zieht den Gewinn daraus- Das Allgemeine Landrecht hat aber jedem hieraus
abgeleiteten Bereicherungsanspruch einen Riegel vorgeschoben mit der Vorschrift,
daß es keinerlei Bereicherungsklage giebt, wo die Beziehungen der Parteien
durch Vertrag geregelt sind, in diesem Fall also durch den Werkvertrag
zwischen Handwerker und Bauunternehmer einerseits und den Kauf- und Dar-
lehnsvertrag zwischen Bauunternehmer und Geldgeber andrerseits. Z 812 des
bürgerlichen Gesetzbuchs enthält diese Schranke nicht: die Worte „ohne recht¬
lichen Grund" lassen sehr wohl eine Deutung auf das sittliche oder wirtschaft¬
liche Recht im Gegensatze zu den geschriebnen Vertragsparagraphen zu. Es
liegt auf der Hand, welch ungeheure Tragweite die so verstandne Vorschrift
für alle Fälle hat, wo das „natürliche" Recht, die Billigkeit, durch ein Netz
von Vertragsbestimmungen ausgesperrt wird.

Freilich ist es nun keine Frage, daß sehr vielen Juristen diese Ausdehnung
der Bereicherungsklage ein Greuel sein wird, und daß man in den Worten
„ohne rechtlichen Grund" die erwähnte landrechtliche Schranke wird wieder¬
erkennen wollen; aber gegen die juristische Zulüssigkeit der hier entwickelten
Auslegung wird sich wenig einwenden lassen, vor allem deshalb, weil sie im
Einklange steht mit den angeführten Grundsätzen des bürgerlichen Gesetzbuchs
und dem darin hervortretenden Bestreben, die Herrschaft des Buchstabens zu
brechen. Welche der beiden Auffassungen dem volksmüßigen Rechtsgefühl mehr
entspricht, wird nicht schwer zu beantworten sein; welche von beiden durch¬
dringen wird, ist eine Frage der künftigen Nechtsentwicklung. Man sieht
daraus, daß das bürgerliche Gesetzbuch, weit entfernt, jede künftige Entwicklung
durch starre Vorschriften abzuschneiden, vielmehr die Möglichkeit bietet, in der
Praxis dem gemeinen Rechtsgefühl über allzu ängstlich-juristische Achtung vor
Verträgen zum Siege zu verhelfen. Aufgabe und Ziel der Rechtsprechung
wird es sein, nicht „zwischen starrem Buchstabendienst und bodenloser Willkür"
hin- und herzuschwanken, wie Professor Gierke befürchtete, sondern die richtige
Mitte zu finden, die die notwendige Sicherheit des Verkehrs mit den Anforde¬
rungen der Billigkeit in Einklang setzt.


6

Damit ist die Rechtsprechung vor eine ganz andre Aufgabe gestellt als
bisher. Die Gesetzgeber, die das Allgemeine Landrecht schufen, hatten geglaubt,
die Jurisprudenz ganz entbehren zu können; man gab sich der Hoffnung hin,
die Ziele der damaligen Kodifikation („Herstellung eines sichern und zweifels¬
freien Rechtszustandes, Beseitigung der Kontroversen, Gemeinverständlichkeit
der Fassung") seien so vollständig erreicht, daß fortan auch der Ungelehrte im¬
stande sein werde, durch einen Blick in das Landrecht kein Recht selbst zu
finden. Deshalb bestimmte das Landrecht auch ausdrücklich: „Es ist ein jeder
Einwohner des Staats sich um die Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/554>, abgerufen am 27.12.2024.