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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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haben das Schriftchen erst jetzt gelesen und müssen gestehen, daß wir den Zeitnngs-
lärm darüber nicht gerechtfertigt finden. Es ist nur ein schwacher Abklatsch der
Proteste, die um 1870 von freisinnigen Katholiken gegen die römische Wirtschaft
erhoben worden sind. Ein Versuch, die im Titel liegende Behauptung zu beweisen,
wird gar nicht gemacht; Schelk beweist höchstens, daß die katholische Kirche ohne
groben Aberglauben bestehen und sich mit dem wissenschaftlichen und technischen
Fortschritt vertragen kann, aber nicht, daß sie diesen fördert. Mit weit größerm
Recht hätte der Ine, H. Martcnsen Larsen, Pfarrer in Vejlby bei Aarhus,
eine schöne Studie, die zuerst in dänischer Sprache herausgegeben worden war und
jetzt bei Reuter und Reichhard in Berlin deutsch erschienen ist, das Christentum
als Prinzip des Fortschritts betiteln können; er überschreibt sie aber bloß: Die
Naturwissenschaft in ihrem Schuldverhältnis zum Christentum. Der
Verfasser beweist, daß es der Polytheismus gewesen ist, was den asiatischen Kultur¬
völkern und auch uoch den Griechen und Römern den Zugang zur Naturerkcnntnis
versperrt hat. Wo jeder Baum und jeder Stern für eine Gottheit gehalten wird,
wo die Durchforschung der Naturwesen als eine Antastung Gottes, ein Sakrilegium
gilt, wo ein Anaxagoras als Gottesleugner verfolgt wird, weil er lehrt, die Sonne
sei nur ein glühender Stein, wo die ganze Natur mit Dämonen erfüllt, sozusagen
verhext ist, da kann von Naturerkcnntnis keine Rede sein. Sie wird erst durch
den Monotheismus möglich, der die Natur für ein Werk Gottes erklärt; bei diesem
Werke der höchste" Vernunft versteht es sich von selbst, daß es ein gesetzmäßig
geordnetes Ganze sein muß, und mit der Anerkennung dieser Thatsache ist der
erste Schritt zu der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur geschehen. Daß diese
Wirkung des Monotheismus so spät zum Durchbruch gekommen ist, erklärt sich aus
den unüberwuudueu Resten des Heidentums; und zwar hat nicht bloß der zurück¬
gebliebne Dämonen- und sonstige Aberglaube gehindert, sondern auch der un¬
erschütterliche Glaube der Gelehrten nu die unfehlbare Autorität der alten Philo¬
sophen; so sind es z. B. die Aristoteliker gewesen, die die Inquisition auf Galilei
gehetzt haben. Der Grundgedanke der Schrift findet sich, wie der Verfasser bekennt,
schon bei Friedrich Albert Lange und Dubois-Reymond; aber er hat ihn ganz
selbständig durchgeführt und bewiesen.


Jakob Böhme. Über sein Leben und seine Philosophie. Rede, gehalten zu Kiel am
8. Mai 18!)7 von Dr. Paul Deussen, Professor der Philosophie an der Universität Kiel.
Herausgegeben zum Besten eines Jnkob Böhme-Denkmals in Görlitz, Preis 5><) Pfennige-
Kiel, Lipstns und Tischer, 18!>7

Der Vortrag giebt in anziehender Darstellung, was ein gebildeter Mann von
demi Schuster und Theosopheu zu wissen wünschen kann. Ans dessen Schriften schält
Deussen den Kern heraus, und mau muß gestehen, daß dieser die Grundprobleme
der Religionsphilosophie in einer originellen, nicht bloß an die alten Mystiker,
sondern auch an die modernen pantheistischen Systeme erinnernden Form darbietet;
aber der Verfasser überschätzt seinen Helden, wenn er meint, daß dieser unter
günstigern Umständen "ganz der Mann gewesen wäre, die von Luther halb voll¬
brachte Reformation der Kirche zu vollenden und eine Versöhnung der Wissen¬
schaft und des Glaubens herbeizuführen, wie sie uns bis auf den heutigen Tag
noch fehlt."




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr, Will), Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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haben das Schriftchen erst jetzt gelesen und müssen gestehen, daß wir den Zeitnngs-
lärm darüber nicht gerechtfertigt finden. Es ist nur ein schwacher Abklatsch der
Proteste, die um 1870 von freisinnigen Katholiken gegen die römische Wirtschaft
erhoben worden sind. Ein Versuch, die im Titel liegende Behauptung zu beweisen,
wird gar nicht gemacht; Schelk beweist höchstens, daß die katholische Kirche ohne
groben Aberglauben bestehen und sich mit dem wissenschaftlichen und technischen
Fortschritt vertragen kann, aber nicht, daß sie diesen fördert. Mit weit größerm
Recht hätte der Ine, H. Martcnsen Larsen, Pfarrer in Vejlby bei Aarhus,
eine schöne Studie, die zuerst in dänischer Sprache herausgegeben worden war und
jetzt bei Reuter und Reichhard in Berlin deutsch erschienen ist, das Christentum
als Prinzip des Fortschritts betiteln können; er überschreibt sie aber bloß: Die
Naturwissenschaft in ihrem Schuldverhältnis zum Christentum. Der
Verfasser beweist, daß es der Polytheismus gewesen ist, was den asiatischen Kultur¬
völkern und auch uoch den Griechen und Römern den Zugang zur Naturerkcnntnis
versperrt hat. Wo jeder Baum und jeder Stern für eine Gottheit gehalten wird,
wo die Durchforschung der Naturwesen als eine Antastung Gottes, ein Sakrilegium
gilt, wo ein Anaxagoras als Gottesleugner verfolgt wird, weil er lehrt, die Sonne
sei nur ein glühender Stein, wo die ganze Natur mit Dämonen erfüllt, sozusagen
verhext ist, da kann von Naturerkcnntnis keine Rede sein. Sie wird erst durch
den Monotheismus möglich, der die Natur für ein Werk Gottes erklärt; bei diesem
Werke der höchste» Vernunft versteht es sich von selbst, daß es ein gesetzmäßig
geordnetes Ganze sein muß, und mit der Anerkennung dieser Thatsache ist der
erste Schritt zu der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur geschehen. Daß diese
Wirkung des Monotheismus so spät zum Durchbruch gekommen ist, erklärt sich aus
den unüberwuudueu Resten des Heidentums; und zwar hat nicht bloß der zurück¬
gebliebne Dämonen- und sonstige Aberglaube gehindert, sondern auch der un¬
erschütterliche Glaube der Gelehrten nu die unfehlbare Autorität der alten Philo¬
sophen; so sind es z. B. die Aristoteliker gewesen, die die Inquisition auf Galilei
gehetzt haben. Der Grundgedanke der Schrift findet sich, wie der Verfasser bekennt,
schon bei Friedrich Albert Lange und Dubois-Reymond; aber er hat ihn ganz
selbständig durchgeführt und bewiesen.


Jakob Böhme. Über sein Leben und seine Philosophie. Rede, gehalten zu Kiel am
8. Mai 18!)7 von Dr. Paul Deussen, Professor der Philosophie an der Universität Kiel.
Herausgegeben zum Besten eines Jnkob Böhme-Denkmals in Görlitz, Preis 5><) Pfennige-
Kiel, Lipstns und Tischer, 18!>7

Der Vortrag giebt in anziehender Darstellung, was ein gebildeter Mann von
demi Schuster und Theosopheu zu wissen wünschen kann. Ans dessen Schriften schält
Deussen den Kern heraus, und mau muß gestehen, daß dieser die Grundprobleme
der Religionsphilosophie in einer originellen, nicht bloß an die alten Mystiker,
sondern auch an die modernen pantheistischen Systeme erinnernden Form darbietet;
aber der Verfasser überschätzt seinen Helden, wenn er meint, daß dieser unter
günstigern Umständen „ganz der Mann gewesen wäre, die von Luther halb voll¬
brachte Reformation der Kirche zu vollenden und eine Versöhnung der Wissen¬
schaft und des Glaubens herbeizuführen, wie sie uns bis auf den heutigen Tag
noch fehlt."




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr, Will), Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/488>, abgerufen am 27.12.2024.