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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Das ist ja alles Unsinn, wird der Leser sagen, und wahrscheinlich hat
er Recht, aber er wird einsehen, daß einer, der diese Erwägungen angestellt
hat, keine Lust mehr haben kann, Religionsunterricht zu erteilen. Übrigens
aber sind diese Erwägungen weder etwas neues, noch Gehirnausschwitzungen
weniger Querkopfe. Die Ketzer aller Jahrhundete -- und deren Zahl ist
wahrlich nicht klein -- sind in ihrer Opposition gegen die Kirche von diesen
und ähnlichen Gedanken ausgegangen, und Gottfried Arnold, des frommen
Speners Schüler, hat in seiner berühmten "Unparteiischen Kirchen- und Ketzer¬
historie" ganz entschieden für die Ketzer Partei genommen und nachzuweisen
versucht, daß das wahre Christentum immer nur bei ihnen und niemals bei
den herrschenden Kirchen sei; er war schon in jungen Jahren zu dieser Er¬
kenntnis gelangt, die ja natürlich nur mit Einschränkungen wahr ist, und hatte
deshalb auch kein kirchliches Amt angenommen, weil bei dessen Führung "doch
alles nur auf ein opus ox<zrawin hinauslaufe," auf äußerliche Leistungen,
denen der Geist Christi fehlt.




Jeremias Gotthelf
v Adolf Bartels on 1

u den deutschen Dichtern, deren hundertjährigen Geburtstag man
in diesem Jahre feiern kann, gehört auch Jeremias Gotthelf oder
Albert Bitzius, der Pfarrer von Lützelflüh im Kanton Bern, ge¬
boren am 5. Oktober 1797 in Murten. Aber man scheint
Bedenken zu tragen, den Schweizer Pfarrer unter die jubiläums¬
würdigen deutschen Dichter einzureihen, wenigstens fand ich in dem Jubiläen¬
verzeichnis, das die Tageszeitungen zu Anfang jedes Jahres zu veröffentlichen
pflegen, seinen Geburtstag vielfach uicht angemerkt. Ich wunderte mich nicht
sehr darüber. Gotthelf ist eine Erscheinung, mit der die Litteraturwurstler,
mögen sie nun Professoren der Litteraturgeschichte oder Feuilletonredakteure
oder geistvolle Damen sein, nie sehr viel anzufangen gewußt haben; deshalb
steckten sie ihn in die Klasse der ästhetisch kaum in Betracht kommenden Volks-
schriftsteller. Heute vollends, wo man in weiten Kreisen ganz ernsthaft an
eine von Anfang der achtziger Jahre datirende, völlig neue deutsche Litteratur
glaubt und alles mißachtet, was uicht deu Berliner Stempel hat, hat man


Jeremias Gotthelf

Das ist ja alles Unsinn, wird der Leser sagen, und wahrscheinlich hat
er Recht, aber er wird einsehen, daß einer, der diese Erwägungen angestellt
hat, keine Lust mehr haben kann, Religionsunterricht zu erteilen. Übrigens
aber sind diese Erwägungen weder etwas neues, noch Gehirnausschwitzungen
weniger Querkopfe. Die Ketzer aller Jahrhundete — und deren Zahl ist
wahrlich nicht klein — sind in ihrer Opposition gegen die Kirche von diesen
und ähnlichen Gedanken ausgegangen, und Gottfried Arnold, des frommen
Speners Schüler, hat in seiner berühmten „Unparteiischen Kirchen- und Ketzer¬
historie" ganz entschieden für die Ketzer Partei genommen und nachzuweisen
versucht, daß das wahre Christentum immer nur bei ihnen und niemals bei
den herrschenden Kirchen sei; er war schon in jungen Jahren zu dieser Er¬
kenntnis gelangt, die ja natürlich nur mit Einschränkungen wahr ist, und hatte
deshalb auch kein kirchliches Amt angenommen, weil bei dessen Führung „doch
alles nur auf ein opus ox<zrawin hinauslaufe," auf äußerliche Leistungen,
denen der Geist Christi fehlt.




Jeremias Gotthelf
v Adolf Bartels on 1

u den deutschen Dichtern, deren hundertjährigen Geburtstag man
in diesem Jahre feiern kann, gehört auch Jeremias Gotthelf oder
Albert Bitzius, der Pfarrer von Lützelflüh im Kanton Bern, ge¬
boren am 5. Oktober 1797 in Murten. Aber man scheint
Bedenken zu tragen, den Schweizer Pfarrer unter die jubiläums¬
würdigen deutschen Dichter einzureihen, wenigstens fand ich in dem Jubiläen¬
verzeichnis, das die Tageszeitungen zu Anfang jedes Jahres zu veröffentlichen
pflegen, seinen Geburtstag vielfach uicht angemerkt. Ich wunderte mich nicht
sehr darüber. Gotthelf ist eine Erscheinung, mit der die Litteraturwurstler,
mögen sie nun Professoren der Litteraturgeschichte oder Feuilletonredakteure
oder geistvolle Damen sein, nie sehr viel anzufangen gewußt haben; deshalb
steckten sie ihn in die Klasse der ästhetisch kaum in Betracht kommenden Volks-
schriftsteller. Heute vollends, wo man in weiten Kreisen ganz ernsthaft an
eine von Anfang der achtziger Jahre datirende, völlig neue deutsche Litteratur
glaubt und alles mißachtet, was uicht deu Berliner Stempel hat, hat man


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[0276] Jeremias Gotthelf Das ist ja alles Unsinn, wird der Leser sagen, und wahrscheinlich hat er Recht, aber er wird einsehen, daß einer, der diese Erwägungen angestellt hat, keine Lust mehr haben kann, Religionsunterricht zu erteilen. Übrigens aber sind diese Erwägungen weder etwas neues, noch Gehirnausschwitzungen weniger Querkopfe. Die Ketzer aller Jahrhundete — und deren Zahl ist wahrlich nicht klein — sind in ihrer Opposition gegen die Kirche von diesen und ähnlichen Gedanken ausgegangen, und Gottfried Arnold, des frommen Speners Schüler, hat in seiner berühmten „Unparteiischen Kirchen- und Ketzer¬ historie" ganz entschieden für die Ketzer Partei genommen und nachzuweisen versucht, daß das wahre Christentum immer nur bei ihnen und niemals bei den herrschenden Kirchen sei; er war schon in jungen Jahren zu dieser Er¬ kenntnis gelangt, die ja natürlich nur mit Einschränkungen wahr ist, und hatte deshalb auch kein kirchliches Amt angenommen, weil bei dessen Führung „doch alles nur auf ein opus ox<zrawin hinauslaufe," auf äußerliche Leistungen, denen der Geist Christi fehlt. Jeremias Gotthelf v Adolf Bartels on 1 u den deutschen Dichtern, deren hundertjährigen Geburtstag man in diesem Jahre feiern kann, gehört auch Jeremias Gotthelf oder Albert Bitzius, der Pfarrer von Lützelflüh im Kanton Bern, ge¬ boren am 5. Oktober 1797 in Murten. Aber man scheint Bedenken zu tragen, den Schweizer Pfarrer unter die jubiläums¬ würdigen deutschen Dichter einzureihen, wenigstens fand ich in dem Jubiläen¬ verzeichnis, das die Tageszeitungen zu Anfang jedes Jahres zu veröffentlichen pflegen, seinen Geburtstag vielfach uicht angemerkt. Ich wunderte mich nicht sehr darüber. Gotthelf ist eine Erscheinung, mit der die Litteraturwurstler, mögen sie nun Professoren der Litteraturgeschichte oder Feuilletonredakteure oder geistvolle Damen sein, nie sehr viel anzufangen gewußt haben; deshalb steckten sie ihn in die Klasse der ästhetisch kaum in Betracht kommenden Volks- schriftsteller. Heute vollends, wo man in weiten Kreisen ganz ernsthaft an eine von Anfang der achtziger Jahre datirende, völlig neue deutsche Litteratur glaubt und alles mißachtet, was uicht deu Berliner Stempel hat, hat man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/276>, abgerufen am 27.12.2024.