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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

(Grundherrschaft und Rittergut. Vorträge, nebst biographischen Beilagen.
Leipzig, Duncker und Humblot, 1897). Am meisten hat uns eine Vergleichung
des Verlaufs der Bauernbefreiung in Österreich und in Preußen interessirt. Die
"biographischen Beilagen" sind gelungne Zeichnungen der Charakterköpfe von Nasse,
Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann, Helferich, Ernst Engel und Georg Hauffer.

Zum Schluß mag noch der echt katholische Vorschlag erwähnt werden, den
der Bonner Professor Dr. W. PH. Englert in seiner "sozialtheologischen Studie":
Arbeitergcistliche (Regensburg, Nationale Verlagsanstalt, früher G. I. Manz,
1897) macht: es soll ein neuer Orden gegründet werden, der sich ausschließlich der
Arbeiterseelsorge, d. h. ohne Umschweife gesagt dem Schutze der Arbeiter vor Ent-
kirchlichuug und der Wiedergewinnung der schon Eutkirchlichteu zu widmen hätte;
daß die durchschnittlichen Seelsorgegeistlichen der Aufgabe, Engels und Bebel vor
Arbeitern erfolgreich zu widerlegen, nicht gewachsen sind, damit dürfte der Verfasser
Recht haben, aber eine neue Ordensgründnng wird ihm Wohl nicht glücken; die
großen und berühmten Orden sind nicht auf den Vorschlag von Broschürenschrcibern
gegründet worden, sondern ans dem Antrieb des Geistes in genialen Menschen
hervorgegangen.


Nietzschecina.

Die meisten der Bücher und Broschüren, die über Philo¬
sophen geschrieben werden, sind überflüssig; denn der Fachmann hält sich doch an
den einzelnen Philosophen selbst und macht sich seine eignen Gedanken über ihn,
der gebildete Laie erfährt das Notwendige aus einem Kompendium der Geschichte
der Philosophie. Gute Schriften über Nietzsche dagegen finden wir nützlich, weil
man niemandem die Lektüre dieses Schwarmgeistes anraten kann. Wir selbst haben
ihn noch nicht gelesen, nicht etwa, weil wir uns vor ihm fürchteten, sondern weil
wir bisher immer noch besseres und notwendigeres zu thun hatten; wir verschieben
seine Lektüre auf eine Zeit, wo wir einmal nichts ordentliches zu thun haben
werden. Unter diesen Umständen mußte uns ein Schriftchen, das die Quintessenz
des Nietzschischen Geistes darbietet, willkommen sein, und da fallen uns um gleich
zwei solche gleich gute in die Hände: Nietzsches Welt- und Lebensanschauung
in ihrer Entstehung und Entwicklung dargestellt und beurteilt von Otto Ritschl,
außerordentlichem Professor der Theologie in Bonn (Freiburg i. B. und Leipzig,
I. C. B. Mohr, 1897) und: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von Ferdinand
Tönnies (Leipzig, Reislnnd, 1897). Ritschl hat seine Schrift dem theologischen
Ferienknrsus zu Bonn gewidmet, dem er den Hauptinhalt vorgetragen hatte. Er
findet, Nietzsche sei viel zu gefährlich, als daß man ihn nicht ernst nehmen oder
sich darauf beschränken dürfte, die bekannten, seinen Schriften entnommnen Schlag¬
worte kurz abzuweisen. Tönnies hat als Jüngling selbst für Nietzsche geschwärmt,
kennt also seiue Macht über die Gemüter. Beide folgen dem großen Irrlicht auf
allen seinen Sprüngen durch alle seine Entwicklungsphasen hindurch und zeigen die
Nichtigkeit seiner "Philosophie" auf. Selbstverständlich hat Nietzsche nicht bloß
schön, sondern sehr viel Schönes und Wahres geschrieben. Der Fehler liegt darin,
daß er alle Widersprüche des Dnseins mit seinem überempfindlichen Gemüt wahr¬
genommen und sofort auf den ersten Eindruck hin dargestellt, aber keinen Versuch
gemacht hat, sie zu losen. Zu einem erfolgreichen Lvsungsversuche war er, abgesehen
von den Hindernissen, die ihm seine Gemütsart bereitete, schon deswegen wenig
befähigt, weil es ihm an positiven Kenntnissen fehlte; aus diesem Grunde sind alle
seine Geschichtskonstruktione" haltlos und beurteilt er die sozialen Bewegungen der
Gegenwart falsch. Selbst bei bescheidner Geschichtskunde hätte er eigentlich wissen


Litteratur

(Grundherrschaft und Rittergut. Vorträge, nebst biographischen Beilagen.
Leipzig, Duncker und Humblot, 1897). Am meisten hat uns eine Vergleichung
des Verlaufs der Bauernbefreiung in Österreich und in Preußen interessirt. Die
„biographischen Beilagen" sind gelungne Zeichnungen der Charakterköpfe von Nasse,
Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann, Helferich, Ernst Engel und Georg Hauffer.

Zum Schluß mag noch der echt katholische Vorschlag erwähnt werden, den
der Bonner Professor Dr. W. PH. Englert in seiner „sozialtheologischen Studie":
Arbeitergcistliche (Regensburg, Nationale Verlagsanstalt, früher G. I. Manz,
1897) macht: es soll ein neuer Orden gegründet werden, der sich ausschließlich der
Arbeiterseelsorge, d. h. ohne Umschweife gesagt dem Schutze der Arbeiter vor Ent-
kirchlichuug und der Wiedergewinnung der schon Eutkirchlichteu zu widmen hätte;
daß die durchschnittlichen Seelsorgegeistlichen der Aufgabe, Engels und Bebel vor
Arbeitern erfolgreich zu widerlegen, nicht gewachsen sind, damit dürfte der Verfasser
Recht haben, aber eine neue Ordensgründnng wird ihm Wohl nicht glücken; die
großen und berühmten Orden sind nicht auf den Vorschlag von Broschürenschrcibern
gegründet worden, sondern ans dem Antrieb des Geistes in genialen Menschen
hervorgegangen.


Nietzschecina.

Die meisten der Bücher und Broschüren, die über Philo¬
sophen geschrieben werden, sind überflüssig; denn der Fachmann hält sich doch an
den einzelnen Philosophen selbst und macht sich seine eignen Gedanken über ihn,
der gebildete Laie erfährt das Notwendige aus einem Kompendium der Geschichte
der Philosophie. Gute Schriften über Nietzsche dagegen finden wir nützlich, weil
man niemandem die Lektüre dieses Schwarmgeistes anraten kann. Wir selbst haben
ihn noch nicht gelesen, nicht etwa, weil wir uns vor ihm fürchteten, sondern weil
wir bisher immer noch besseres und notwendigeres zu thun hatten; wir verschieben
seine Lektüre auf eine Zeit, wo wir einmal nichts ordentliches zu thun haben
werden. Unter diesen Umständen mußte uns ein Schriftchen, das die Quintessenz
des Nietzschischen Geistes darbietet, willkommen sein, und da fallen uns um gleich
zwei solche gleich gute in die Hände: Nietzsches Welt- und Lebensanschauung
in ihrer Entstehung und Entwicklung dargestellt und beurteilt von Otto Ritschl,
außerordentlichem Professor der Theologie in Bonn (Freiburg i. B. und Leipzig,
I. C. B. Mohr, 1897) und: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von Ferdinand
Tönnies (Leipzig, Reislnnd, 1897). Ritschl hat seine Schrift dem theologischen
Ferienknrsus zu Bonn gewidmet, dem er den Hauptinhalt vorgetragen hatte. Er
findet, Nietzsche sei viel zu gefährlich, als daß man ihn nicht ernst nehmen oder
sich darauf beschränken dürfte, die bekannten, seinen Schriften entnommnen Schlag¬
worte kurz abzuweisen. Tönnies hat als Jüngling selbst für Nietzsche geschwärmt,
kennt also seiue Macht über die Gemüter. Beide folgen dem großen Irrlicht auf
allen seinen Sprüngen durch alle seine Entwicklungsphasen hindurch und zeigen die
Nichtigkeit seiner „Philosophie" auf. Selbstverständlich hat Nietzsche nicht bloß
schön, sondern sehr viel Schönes und Wahres geschrieben. Der Fehler liegt darin,
daß er alle Widersprüche des Dnseins mit seinem überempfindlichen Gemüt wahr¬
genommen und sofort auf den ersten Eindruck hin dargestellt, aber keinen Versuch
gemacht hat, sie zu losen. Zu einem erfolgreichen Lvsungsversuche war er, abgesehen
von den Hindernissen, die ihm seine Gemütsart bereitete, schon deswegen wenig
befähigt, weil es ihm an positiven Kenntnissen fehlte; aus diesem Grunde sind alle
seine Geschichtskonstruktione» haltlos und beurteilt er die sozialen Bewegungen der
Gegenwart falsch. Selbst bei bescheidner Geschichtskunde hätte er eigentlich wissen


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[0246] Litteratur (Grundherrschaft und Rittergut. Vorträge, nebst biographischen Beilagen. Leipzig, Duncker und Humblot, 1897). Am meisten hat uns eine Vergleichung des Verlaufs der Bauernbefreiung in Österreich und in Preußen interessirt. Die „biographischen Beilagen" sind gelungne Zeichnungen der Charakterköpfe von Nasse, Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann, Helferich, Ernst Engel und Georg Hauffer. Zum Schluß mag noch der echt katholische Vorschlag erwähnt werden, den der Bonner Professor Dr. W. PH. Englert in seiner „sozialtheologischen Studie": Arbeitergcistliche (Regensburg, Nationale Verlagsanstalt, früher G. I. Manz, 1897) macht: es soll ein neuer Orden gegründet werden, der sich ausschließlich der Arbeiterseelsorge, d. h. ohne Umschweife gesagt dem Schutze der Arbeiter vor Ent- kirchlichuug und der Wiedergewinnung der schon Eutkirchlichteu zu widmen hätte; daß die durchschnittlichen Seelsorgegeistlichen der Aufgabe, Engels und Bebel vor Arbeitern erfolgreich zu widerlegen, nicht gewachsen sind, damit dürfte der Verfasser Recht haben, aber eine neue Ordensgründnng wird ihm Wohl nicht glücken; die großen und berühmten Orden sind nicht auf den Vorschlag von Broschürenschrcibern gegründet worden, sondern ans dem Antrieb des Geistes in genialen Menschen hervorgegangen. Nietzschecina. Die meisten der Bücher und Broschüren, die über Philo¬ sophen geschrieben werden, sind überflüssig; denn der Fachmann hält sich doch an den einzelnen Philosophen selbst und macht sich seine eignen Gedanken über ihn, der gebildete Laie erfährt das Notwendige aus einem Kompendium der Geschichte der Philosophie. Gute Schriften über Nietzsche dagegen finden wir nützlich, weil man niemandem die Lektüre dieses Schwarmgeistes anraten kann. Wir selbst haben ihn noch nicht gelesen, nicht etwa, weil wir uns vor ihm fürchteten, sondern weil wir bisher immer noch besseres und notwendigeres zu thun hatten; wir verschieben seine Lektüre auf eine Zeit, wo wir einmal nichts ordentliches zu thun haben werden. Unter diesen Umständen mußte uns ein Schriftchen, das die Quintessenz des Nietzschischen Geistes darbietet, willkommen sein, und da fallen uns um gleich zwei solche gleich gute in die Hände: Nietzsches Welt- und Lebensanschauung in ihrer Entstehung und Entwicklung dargestellt und beurteilt von Otto Ritschl, außerordentlichem Professor der Theologie in Bonn (Freiburg i. B. und Leipzig, I. C. B. Mohr, 1897) und: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von Ferdinand Tönnies (Leipzig, Reislnnd, 1897). Ritschl hat seine Schrift dem theologischen Ferienknrsus zu Bonn gewidmet, dem er den Hauptinhalt vorgetragen hatte. Er findet, Nietzsche sei viel zu gefährlich, als daß man ihn nicht ernst nehmen oder sich darauf beschränken dürfte, die bekannten, seinen Schriften entnommnen Schlag¬ worte kurz abzuweisen. Tönnies hat als Jüngling selbst für Nietzsche geschwärmt, kennt also seiue Macht über die Gemüter. Beide folgen dem großen Irrlicht auf allen seinen Sprüngen durch alle seine Entwicklungsphasen hindurch und zeigen die Nichtigkeit seiner „Philosophie" auf. Selbstverständlich hat Nietzsche nicht bloß schön, sondern sehr viel Schönes und Wahres geschrieben. Der Fehler liegt darin, daß er alle Widersprüche des Dnseins mit seinem überempfindlichen Gemüt wahr¬ genommen und sofort auf den ersten Eindruck hin dargestellt, aber keinen Versuch gemacht hat, sie zu losen. Zu einem erfolgreichen Lvsungsversuche war er, abgesehen von den Hindernissen, die ihm seine Gemütsart bereitete, schon deswegen wenig befähigt, weil es ihm an positiven Kenntnissen fehlte; aus diesem Grunde sind alle seine Geschichtskonstruktione» haltlos und beurteilt er die sozialen Bewegungen der Gegenwart falsch. Selbst bei bescheidner Geschichtskunde hätte er eigentlich wissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/246>, abgerufen am 27.12.2024.