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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Dichter und Kritiker

kräftiger, wuchsen unter gesundem Daseinsbedingungen auf und hinterließen
selbst wieder kräftigere Nachkommen." Darauf führt Tille fort: "Diese naive
Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung erworbner
Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals beobachtet worden
ist, besitzt^ auch die deutsche Reichskommission usw." Der Leser weiß nun
ganz genau, was er davon zu halten hat. Daß Gesundheit und Kraft, die
unter günstigen Lebensbedingungen erworben worden sind, daß Krankheit und
Schwäche, die sich jemand unter ungünstigen zugezogen hat, nicht vererbt
würden, ist noch von keinem Menschen beobachtet und noch von keinem Natur¬
forscher gelehrt worden, am wenigsten von Weismann, auf den sich diese Art
Soziologen beruft.

So haben wir denn hier einen interessanten Fall, dessen Bedeutung weit
über das Gebiet hinaus reicht, auf dem er sich ereignet hat. In Büchern,
die sich eiuer günstigen Aufnahme erfreuen, und in weit verbreiteten Zeitungen
und Zeitschriften wird eine Lehre als allgemein anerkanntes und unwiderleg-
liches Dogma verkündigt, der nur eine kleine Minderheit von Naturforschern
huldigt, und die auch von ihren Anhängern nur als unfertige und noch lange
nicht sichere Hypothese bezeichnet wird, und zu einem bestimmten Parteizweck
werden den Urhebern dieser Lehre Ansichten untergeschoben, von denen sie das
Gegenteil lehren; auf diese Weise wird durch den Mißbrauch einer nur wenigen
zugänglichen Fachwissenschaft ein großer Teil des gebildeten Publikums in
folgenschwere Irrtümer verwickelt. Daraus folgt gerade für die Publizisten,
die nicht Fachmänner sind, die Pflicht, sich mit diesen Fachwissenschaften be¬
kannt zu machen und über deren Ergebnisse dem Publikum klaren Wein ein¬
zuschenken.




Dichter und Kritiker

nsre modernen Dichter, namentlich solche, die in Versen dichten,
Pflegen gegen die Kritik recht verstimmt zu sein und beschäftigen
sich, nicht zum Vorteil für ihre Verse, viel zu viel mit ihren
Gegnern. Sie nehmen dabei einen Ton an, als stünden sie hoch
über diesen, in Wirklichkeit aber ist doch ihr Standpunkt nicht
hoch genug. Denn anstatt ihre Leser zu sich emporzuheben, haben sie in ihren
Versen fast immer irgend einen Widersacher im Sinn, mit dem sie sich aus¬
einandersetzen müssen, wozu es doch eigentlich keiner Verse bedürfte, denn
solche Auseinandersetzungen Hort und liest man im Leben genug, wenn sich


Dichter und Kritiker

kräftiger, wuchsen unter gesundem Daseinsbedingungen auf und hinterließen
selbst wieder kräftigere Nachkommen." Darauf führt Tille fort: „Diese naive
Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung erworbner
Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals beobachtet worden
ist, besitzt^ auch die deutsche Reichskommission usw." Der Leser weiß nun
ganz genau, was er davon zu halten hat. Daß Gesundheit und Kraft, die
unter günstigen Lebensbedingungen erworben worden sind, daß Krankheit und
Schwäche, die sich jemand unter ungünstigen zugezogen hat, nicht vererbt
würden, ist noch von keinem Menschen beobachtet und noch von keinem Natur¬
forscher gelehrt worden, am wenigsten von Weismann, auf den sich diese Art
Soziologen beruft.

So haben wir denn hier einen interessanten Fall, dessen Bedeutung weit
über das Gebiet hinaus reicht, auf dem er sich ereignet hat. In Büchern,
die sich eiuer günstigen Aufnahme erfreuen, und in weit verbreiteten Zeitungen
und Zeitschriften wird eine Lehre als allgemein anerkanntes und unwiderleg-
liches Dogma verkündigt, der nur eine kleine Minderheit von Naturforschern
huldigt, und die auch von ihren Anhängern nur als unfertige und noch lange
nicht sichere Hypothese bezeichnet wird, und zu einem bestimmten Parteizweck
werden den Urhebern dieser Lehre Ansichten untergeschoben, von denen sie das
Gegenteil lehren; auf diese Weise wird durch den Mißbrauch einer nur wenigen
zugänglichen Fachwissenschaft ein großer Teil des gebildeten Publikums in
folgenschwere Irrtümer verwickelt. Daraus folgt gerade für die Publizisten,
die nicht Fachmänner sind, die Pflicht, sich mit diesen Fachwissenschaften be¬
kannt zu machen und über deren Ergebnisse dem Publikum klaren Wein ein¬
zuschenken.




Dichter und Kritiker

nsre modernen Dichter, namentlich solche, die in Versen dichten,
Pflegen gegen die Kritik recht verstimmt zu sein und beschäftigen
sich, nicht zum Vorteil für ihre Verse, viel zu viel mit ihren
Gegnern. Sie nehmen dabei einen Ton an, als stünden sie hoch
über diesen, in Wirklichkeit aber ist doch ihr Standpunkt nicht
hoch genug. Denn anstatt ihre Leser zu sich emporzuheben, haben sie in ihren
Versen fast immer irgend einen Widersacher im Sinn, mit dem sie sich aus¬
einandersetzen müssen, wozu es doch eigentlich keiner Verse bedürfte, denn
solche Auseinandersetzungen Hort und liest man im Leben genug, wenn sich


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[0141] Dichter und Kritiker kräftiger, wuchsen unter gesundem Daseinsbedingungen auf und hinterließen selbst wieder kräftigere Nachkommen." Darauf führt Tille fort: „Diese naive Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung erworbner Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals beobachtet worden ist, besitzt^ auch die deutsche Reichskommission usw." Der Leser weiß nun ganz genau, was er davon zu halten hat. Daß Gesundheit und Kraft, die unter günstigen Lebensbedingungen erworben worden sind, daß Krankheit und Schwäche, die sich jemand unter ungünstigen zugezogen hat, nicht vererbt würden, ist noch von keinem Menschen beobachtet und noch von keinem Natur¬ forscher gelehrt worden, am wenigsten von Weismann, auf den sich diese Art Soziologen beruft. So haben wir denn hier einen interessanten Fall, dessen Bedeutung weit über das Gebiet hinaus reicht, auf dem er sich ereignet hat. In Büchern, die sich eiuer günstigen Aufnahme erfreuen, und in weit verbreiteten Zeitungen und Zeitschriften wird eine Lehre als allgemein anerkanntes und unwiderleg- liches Dogma verkündigt, der nur eine kleine Minderheit von Naturforschern huldigt, und die auch von ihren Anhängern nur als unfertige und noch lange nicht sichere Hypothese bezeichnet wird, und zu einem bestimmten Parteizweck werden den Urhebern dieser Lehre Ansichten untergeschoben, von denen sie das Gegenteil lehren; auf diese Weise wird durch den Mißbrauch einer nur wenigen zugänglichen Fachwissenschaft ein großer Teil des gebildeten Publikums in folgenschwere Irrtümer verwickelt. Daraus folgt gerade für die Publizisten, die nicht Fachmänner sind, die Pflicht, sich mit diesen Fachwissenschaften be¬ kannt zu machen und über deren Ergebnisse dem Publikum klaren Wein ein¬ zuschenken. Dichter und Kritiker nsre modernen Dichter, namentlich solche, die in Versen dichten, Pflegen gegen die Kritik recht verstimmt zu sein und beschäftigen sich, nicht zum Vorteil für ihre Verse, viel zu viel mit ihren Gegnern. Sie nehmen dabei einen Ton an, als stünden sie hoch über diesen, in Wirklichkeit aber ist doch ihr Standpunkt nicht hoch genug. Denn anstatt ihre Leser zu sich emporzuheben, haben sie in ihren Versen fast immer irgend einen Widersacher im Sinn, mit dem sie sich aus¬ einandersetzen müssen, wozu es doch eigentlich keiner Verse bedürfte, denn solche Auseinandersetzungen Hort und liest man im Leben genug, wenn sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/141>, abgerufen am 27.12.2024.