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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Abdul Lzamid 17. und die Reformen in der Türkei

die sozialen und sittlichen Zustände der Arbeiterschaft, des Gesindes, auch in
unsern Bauerndörfern -- bei aller Liebe zur Heimat muß das gesagt werden --
vielfach schon jetzt ein Schandfleck. Man mag sorgen, daß sie besser werden,
aber von den Bestrebungen der zünftlerischen Vaueruretter ist auch hier nur
G. B. Schade zu erwarten.




Abdul Hamid II.
und die Reformen in der Türkei

hö-ÄMS
^Moin europäischen Konzert scheinen zur Zeit alle Nummern vom
Programm abgesetzt zu sein zu Gunsten einer Einlage im orien¬
talischen Ncidaustil: alles horcht jetzt nur nach dem ägeischen
Meere hin, Cuba und Venezuela scheinen vergessen, selbst die
Burenrepublik, deren Schicksal vor wenigen Wochen noch Herz
und Hirn aller amtlichen und nichtamtlichen Politiker beschäftigte, scheint aus
dem Gesichtskreis verschwunden zu sein. Das alles hat wieder einmal die
orientalische Frage gemacht.

Reformen in der Türkei! -- mit dieser Forderung glaubte man einmal
die orientalische Frage aus der Welt schaffen zu können. Man hörte auch
oft genug von Reformen, die im Gange sein sollten; aber sie sind nie zur
Wirklichkeit geworden, weil -- wie man allgemein annahm -- die Reform¬
bestrebungen des willigen, aber schwachen Sultans von einer Kamarilla, die
ihn vollständig beherrscht, hintertrieben wurden. Hin und wieder tauchte
jedoch eine andre Lesart auf: nicht in der Indolenz des türkische" Volkes,
nicht in der Verderbtheit der Kamarilla, hieß es, sei die wahre Ursache für
die Mißstände in der Türkei zu suchen, sondern einzig und allein in der
Person des jetzigen Sultans, Abdul Hamid II. In einer neuerdings erschienenen
Broschüre von Karl Küntzer "Abdul Hamid II. und die Reformen in der
Türkei" (Dresden, Karl Meißner) wird diese Behauptung in scharfer Form
aufgestellt und eingehend begründet. Der Verfasser ist augenscheinlich mit den
Verhältnissen im Serail aufs genaueste vertraut und hat seine Erfahrungen
aus amtlicher Stellung geschöpft. Kenner der Verhältnisse erklären seine An¬
gaben sür durchaus zutreffend.

Nur wenn die Türkei -- das ist etwa die Ansicht des Verfassers -- aus
einem barbarisch-asiatischen Staate zu einem modernen wird, wird der Orient
aufhören, eine stete Gefahr für Europa zu sein. Das türkische Volk ist solchen


Abdul Lzamid 17. und die Reformen in der Türkei

die sozialen und sittlichen Zustände der Arbeiterschaft, des Gesindes, auch in
unsern Bauerndörfern — bei aller Liebe zur Heimat muß das gesagt werden —
vielfach schon jetzt ein Schandfleck. Man mag sorgen, daß sie besser werden,
aber von den Bestrebungen der zünftlerischen Vaueruretter ist auch hier nur
G. B. Schade zu erwarten.




Abdul Hamid II.
und die Reformen in der Türkei

hö-ÄMS
^Moin europäischen Konzert scheinen zur Zeit alle Nummern vom
Programm abgesetzt zu sein zu Gunsten einer Einlage im orien¬
talischen Ncidaustil: alles horcht jetzt nur nach dem ägeischen
Meere hin, Cuba und Venezuela scheinen vergessen, selbst die
Burenrepublik, deren Schicksal vor wenigen Wochen noch Herz
und Hirn aller amtlichen und nichtamtlichen Politiker beschäftigte, scheint aus
dem Gesichtskreis verschwunden zu sein. Das alles hat wieder einmal die
orientalische Frage gemacht.

Reformen in der Türkei! — mit dieser Forderung glaubte man einmal
die orientalische Frage aus der Welt schaffen zu können. Man hörte auch
oft genug von Reformen, die im Gange sein sollten; aber sie sind nie zur
Wirklichkeit geworden, weil — wie man allgemein annahm — die Reform¬
bestrebungen des willigen, aber schwachen Sultans von einer Kamarilla, die
ihn vollständig beherrscht, hintertrieben wurden. Hin und wieder tauchte
jedoch eine andre Lesart auf: nicht in der Indolenz des türkische» Volkes,
nicht in der Verderbtheit der Kamarilla, hieß es, sei die wahre Ursache für
die Mißstände in der Türkei zu suchen, sondern einzig und allein in der
Person des jetzigen Sultans, Abdul Hamid II. In einer neuerdings erschienenen
Broschüre von Karl Küntzer „Abdul Hamid II. und die Reformen in der
Türkei" (Dresden, Karl Meißner) wird diese Behauptung in scharfer Form
aufgestellt und eingehend begründet. Der Verfasser ist augenscheinlich mit den
Verhältnissen im Serail aufs genaueste vertraut und hat seine Erfahrungen
aus amtlicher Stellung geschöpft. Kenner der Verhältnisse erklären seine An¬
gaben sür durchaus zutreffend.

Nur wenn die Türkei — das ist etwa die Ansicht des Verfassers — aus
einem barbarisch-asiatischen Staate zu einem modernen wird, wird der Orient
aufhören, eine stete Gefahr für Europa zu sein. Das türkische Volk ist solchen


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[0128] Abdul Lzamid 17. und die Reformen in der Türkei die sozialen und sittlichen Zustände der Arbeiterschaft, des Gesindes, auch in unsern Bauerndörfern — bei aller Liebe zur Heimat muß das gesagt werden — vielfach schon jetzt ein Schandfleck. Man mag sorgen, daß sie besser werden, aber von den Bestrebungen der zünftlerischen Vaueruretter ist auch hier nur G. B. Schade zu erwarten. Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei hö-ÄMS ^Moin europäischen Konzert scheinen zur Zeit alle Nummern vom Programm abgesetzt zu sein zu Gunsten einer Einlage im orien¬ talischen Ncidaustil: alles horcht jetzt nur nach dem ägeischen Meere hin, Cuba und Venezuela scheinen vergessen, selbst die Burenrepublik, deren Schicksal vor wenigen Wochen noch Herz und Hirn aller amtlichen und nichtamtlichen Politiker beschäftigte, scheint aus dem Gesichtskreis verschwunden zu sein. Das alles hat wieder einmal die orientalische Frage gemacht. Reformen in der Türkei! — mit dieser Forderung glaubte man einmal die orientalische Frage aus der Welt schaffen zu können. Man hörte auch oft genug von Reformen, die im Gange sein sollten; aber sie sind nie zur Wirklichkeit geworden, weil — wie man allgemein annahm — die Reform¬ bestrebungen des willigen, aber schwachen Sultans von einer Kamarilla, die ihn vollständig beherrscht, hintertrieben wurden. Hin und wieder tauchte jedoch eine andre Lesart auf: nicht in der Indolenz des türkische» Volkes, nicht in der Verderbtheit der Kamarilla, hieß es, sei die wahre Ursache für die Mißstände in der Türkei zu suchen, sondern einzig und allein in der Person des jetzigen Sultans, Abdul Hamid II. In einer neuerdings erschienenen Broschüre von Karl Küntzer „Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei" (Dresden, Karl Meißner) wird diese Behauptung in scharfer Form aufgestellt und eingehend begründet. Der Verfasser ist augenscheinlich mit den Verhältnissen im Serail aufs genaueste vertraut und hat seine Erfahrungen aus amtlicher Stellung geschöpft. Kenner der Verhältnisse erklären seine An¬ gaben sür durchaus zutreffend. Nur wenn die Türkei — das ist etwa die Ansicht des Verfassers — aus einem barbarisch-asiatischen Staate zu einem modernen wird, wird der Orient aufhören, eine stete Gefahr für Europa zu sein. Das türkische Volk ist solchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/128>, abgerufen am 23.07.2024.