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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

eigentlichen Werden und Verwerden, wenn das Wort erlaubt ist, eines Liedes,
von dem merkwürdigen Zersingen und Jneinandersiugen von Strophen und Dich¬
tungen können wir uns erst dann ein klares Bild machen, wenn wir ein möglichst
vollständiges, nach Ort und Zeit ausgebreitetes Material über dieses oder jenes
Lied zur Hand haben. Dazu hilft die vorliegende Sammlung wieder mit, sie er¬
leichtert überdies die geschichtliche Orientirung durch Verweise auf verwandte
Sammlungen, sie giebt zu jedem Liede die Melodie, und sie nimmt mit ihrer sehr
bescheidnen, aber eben darum vortrefflichen Klavierbegleitung auch auf das Weiter¬
leben oder doch leichtere Bekanntwerden dieser Lieder in solchen Kreisen Bedacht,
wo sie eigentlich nicht heimisch sind, wo man am Klavier singt, anstatt im Wald
und auf der Wiese, beim Wundern und beim Spiele. Die Sammlung enthält in
bunter Reihe Liebes^ und Spottlieder, Kinderspiel- und Soldatenlieder, zusammen
über zweihundert, altes und neues, wie es heute ueben einander in Kassel und seiner
nächsten Umgebung gesungen wird.

- Hier zwei kleine Nachtrage. Die Strophe, die in den Anmerkungen als der
älteste Anfang des Liedes "Ich geh durch einen grasgrünen Wald" aus dem
Jahre 1574 mitgeteilt wird, ist erst wieder eine Umbildung aus dem noch ältern
Liede von den drei Fräulein, das in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
viel gesungen worden ist, Ludwig Senft hat bereits damals einen reizenden vier¬
stimmigen Satz dazu geschrieben. Zu dem Liede "Mama, Papa, ach sehn sie doch
den Knaben" bemerkt Lewalter, daß ein früherer Sammler, Mittler, das Lied Ewald
von Kleist zuschreibe, fügt aber hinzu: "Ich habe die Dichtung in Kleists Werken nicht
finden können." Da steht sie mich nicht, und das fragliche Original -- denn das
hessische Volkslied ist unglaublich entstellt -- ist in der That nicht von Kleist,
wenn es ihm auch schou 1772 in einem Neudruck im (Leipziger) Almanach der
deutschen Musen Angeschrieben worden ist. Der wahre Verfasser des Originals ist
Johann Samuel Patzkc, ein Berliner Dichterling der Aufklärungszeit; er war mit
Kleist und den, jungen Nicolai befreundet. Vergl, Wustmanns Liederbuch für
altmodische Leute "Als der Großvater die Großmutter nah",," 3. Aust., S. 259.


Der Umsturz. Briefe und Gespräche von Berthold Otto. Leipzig, Albert Wnrnecke, 18!)l>

Schade, daß dieses Büchlein nicht schon vor ein paar Jahren erschienen ist!
Es enthält nämlich nützliche volkswirtschaftliche Erörterungen -- aber in der jetzt
schon ein wenig verbrauchten Form einer Znknnftsphantasie. Wer es dennoch
damit wagt, wird es nicht bereue", den" der Verfasser verfügt über die Kunst
anziehender Darstellung und über einen gemütlichen trocknen Humor, und die
Personen, die er mit einander korrespvndiren läßt, charakterisiren sich in einer
Weise, daß der Leser Interesse für sie gewinnt.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Aerlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. -- Druck von Carl Mnrqunrt in Leipzig
Litteratur

eigentlichen Werden und Verwerden, wenn das Wort erlaubt ist, eines Liedes,
von dem merkwürdigen Zersingen und Jneinandersiugen von Strophen und Dich¬
tungen können wir uns erst dann ein klares Bild machen, wenn wir ein möglichst
vollständiges, nach Ort und Zeit ausgebreitetes Material über dieses oder jenes
Lied zur Hand haben. Dazu hilft die vorliegende Sammlung wieder mit, sie er¬
leichtert überdies die geschichtliche Orientirung durch Verweise auf verwandte
Sammlungen, sie giebt zu jedem Liede die Melodie, und sie nimmt mit ihrer sehr
bescheidnen, aber eben darum vortrefflichen Klavierbegleitung auch auf das Weiter¬
leben oder doch leichtere Bekanntwerden dieser Lieder in solchen Kreisen Bedacht,
wo sie eigentlich nicht heimisch sind, wo man am Klavier singt, anstatt im Wald
und auf der Wiese, beim Wundern und beim Spiele. Die Sammlung enthält in
bunter Reihe Liebes^ und Spottlieder, Kinderspiel- und Soldatenlieder, zusammen
über zweihundert, altes und neues, wie es heute ueben einander in Kassel und seiner
nächsten Umgebung gesungen wird.

- Hier zwei kleine Nachtrage. Die Strophe, die in den Anmerkungen als der
älteste Anfang des Liedes „Ich geh durch einen grasgrünen Wald" aus dem
Jahre 1574 mitgeteilt wird, ist erst wieder eine Umbildung aus dem noch ältern
Liede von den drei Fräulein, das in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
viel gesungen worden ist, Ludwig Senft hat bereits damals einen reizenden vier¬
stimmigen Satz dazu geschrieben. Zu dem Liede „Mama, Papa, ach sehn sie doch
den Knaben" bemerkt Lewalter, daß ein früherer Sammler, Mittler, das Lied Ewald
von Kleist zuschreibe, fügt aber hinzu: „Ich habe die Dichtung in Kleists Werken nicht
finden können." Da steht sie mich nicht, und das fragliche Original — denn das
hessische Volkslied ist unglaublich entstellt — ist in der That nicht von Kleist,
wenn es ihm auch schou 1772 in einem Neudruck im (Leipziger) Almanach der
deutschen Musen Angeschrieben worden ist. Der wahre Verfasser des Originals ist
Johann Samuel Patzkc, ein Berliner Dichterling der Aufklärungszeit; er war mit
Kleist und den, jungen Nicolai befreundet. Vergl, Wustmanns Liederbuch für
altmodische Leute „Als der Großvater die Großmutter nah»,," 3. Aust., S. 259.


Der Umsturz. Briefe und Gespräche von Berthold Otto. Leipzig, Albert Wnrnecke, 18!)l>

Schade, daß dieses Büchlein nicht schon vor ein paar Jahren erschienen ist!
Es enthält nämlich nützliche volkswirtschaftliche Erörterungen — aber in der jetzt
schon ein wenig verbrauchten Form einer Znknnftsphantasie. Wer es dennoch
damit wagt, wird es nicht bereue», den» der Verfasser verfügt über die Kunst
anziehender Darstellung und über einen gemütlichen trocknen Humor, und die
Personen, die er mit einander korrespvndiren läßt, charakterisiren sich in einer
Weise, daß der Leser Interesse für sie gewinnt.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Aerlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrqunrt in Leipzig
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[0352] Litteratur eigentlichen Werden und Verwerden, wenn das Wort erlaubt ist, eines Liedes, von dem merkwürdigen Zersingen und Jneinandersiugen von Strophen und Dich¬ tungen können wir uns erst dann ein klares Bild machen, wenn wir ein möglichst vollständiges, nach Ort und Zeit ausgebreitetes Material über dieses oder jenes Lied zur Hand haben. Dazu hilft die vorliegende Sammlung wieder mit, sie er¬ leichtert überdies die geschichtliche Orientirung durch Verweise auf verwandte Sammlungen, sie giebt zu jedem Liede die Melodie, und sie nimmt mit ihrer sehr bescheidnen, aber eben darum vortrefflichen Klavierbegleitung auch auf das Weiter¬ leben oder doch leichtere Bekanntwerden dieser Lieder in solchen Kreisen Bedacht, wo sie eigentlich nicht heimisch sind, wo man am Klavier singt, anstatt im Wald und auf der Wiese, beim Wundern und beim Spiele. Die Sammlung enthält in bunter Reihe Liebes^ und Spottlieder, Kinderspiel- und Soldatenlieder, zusammen über zweihundert, altes und neues, wie es heute ueben einander in Kassel und seiner nächsten Umgebung gesungen wird. - Hier zwei kleine Nachtrage. Die Strophe, die in den Anmerkungen als der älteste Anfang des Liedes „Ich geh durch einen grasgrünen Wald" aus dem Jahre 1574 mitgeteilt wird, ist erst wieder eine Umbildung aus dem noch ältern Liede von den drei Fräulein, das in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts viel gesungen worden ist, Ludwig Senft hat bereits damals einen reizenden vier¬ stimmigen Satz dazu geschrieben. Zu dem Liede „Mama, Papa, ach sehn sie doch den Knaben" bemerkt Lewalter, daß ein früherer Sammler, Mittler, das Lied Ewald von Kleist zuschreibe, fügt aber hinzu: „Ich habe die Dichtung in Kleists Werken nicht finden können." Da steht sie mich nicht, und das fragliche Original — denn das hessische Volkslied ist unglaublich entstellt — ist in der That nicht von Kleist, wenn es ihm auch schou 1772 in einem Neudruck im (Leipziger) Almanach der deutschen Musen Angeschrieben worden ist. Der wahre Verfasser des Originals ist Johann Samuel Patzkc, ein Berliner Dichterling der Aufklärungszeit; er war mit Kleist und den, jungen Nicolai befreundet. Vergl, Wustmanns Liederbuch für altmodische Leute „Als der Großvater die Großmutter nah»,," 3. Aust., S. 259. Der Umsturz. Briefe und Gespräche von Berthold Otto. Leipzig, Albert Wnrnecke, 18!)l> Schade, daß dieses Büchlein nicht schon vor ein paar Jahren erschienen ist! Es enthält nämlich nützliche volkswirtschaftliche Erörterungen — aber in der jetzt schon ein wenig verbrauchten Form einer Znknnftsphantasie. Wer es dennoch damit wagt, wird es nicht bereue», den» der Verfasser verfügt über die Kunst anziehender Darstellung und über einen gemütlichen trocknen Humor, und die Personen, die er mit einander korrespvndiren läßt, charakterisiren sich in einer Weise, daß der Leser Interesse für sie gewinnt. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Aerlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrqunrt in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/352>, abgerufen am 05.01.2025.