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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

rischen Chronik einmal Fehler im Bau als Wölfe bezeichnet werden. Die Vorsicht
Pauls in Bezug auf bildliche Ausdrücke geht so weit, daß er die Wendung "er
ist die Eule unter den Krähen" mit dem Satze erklärt: "Die Eule gilt nach dem
Volksglauben als Gegenstand des Gespöttes für andre Vögel." Jeder, der die Eule
einmal bei Anbruch des Abends inmitten andrer Vögel vor dem Ausfliegen be¬
obachtet hat, wird hier nicht mehr von Gelten und Volksglauben sprechen, sondern
von einer Thatsache.

Nur ganz vereinzelt wird der Leser finden, daß Paul die Schranken der
Vorsicht etwas überschritten habe. Das gilt z. B. von Angaben wie der, daß da¬
hinten nur bis ins achtzehnte Jahrhundert für "zurück" gebraucht worden sei
(noch heute braucht mau es so in Österreich), wohl auch von der Bemerkung
"bis ins achtzehnte Jahrhundert reicht noch "erziehen können" -- imstande sein,
zu ziehen" und dem Zusatz zu errufen: "nicht mehr recht üblich"; in den beiden
letzten Beispielen hat das Präfix eine auf der Grenze von etymologischen und
syntaktischen Inhalt stehende Bedeutung, die in Mitteldeutschland noch durchaus
lebendig ist. Auch in der unbedingten Gleichsetzung heute ungebräuchlicher er¬
Komposita Zerquetschen, ertreten: z. B. ertrat das arme Veilchen) mit unsern ent¬
sprechenden zer-Komposita geht Paul wohl zu weit: Goethe hätte zertreten, Jean
Paul zerquetschen sagen können, wenn sie nicht die sinnliche Vorstellung des Aus¬
einander, die immer noch in zer- enthalten ist, ausdrücklich an ihrer Stelle hätten
vermeiden wollen.

Wir freuen uns auf die Fortsetzung und auf die Vollendung des Werkes,
die sür den Oktober in Aussicht gestellt wird.


Litteraturgeschichtsunterricht uach rückläufiger Methode.

Wenn
die Zeitungen recht berichtet haben, hat Herr Eugen Wolff, früher Privatdozcnr,
jetzt außerordentlicher Professor in Kiel, bereits kurz nachdem vom deutschen Kaiser
für den Geschichtsunterricht die rückläufige Methode empfohlen worden war, nach
dieser Methode über deutsche Litteraturgeschichte gelesen. Neuerdings tritt er dafür
ein, daß dieses Fach auch auf Schulen in gleicher Weise betrieben werde. Der
Zeitschrift für den deutschen Unterricht ist es zu danken, daß die pädagogische Welt
mit Herrn Wolffs Forderungen nicht unbekannt bleibt. "In diesen Tagen leben¬
diger Erinnerung an die um ein Vierteljahrhundert zurückliegenden nationalen Gro߬
thaten, lesen wir auf Seite 303 des letzten Doppelheftes, hat jeder Lehrer der
Geschichte und Litteraturgeschichte, wo (?) er nicht mit Blindheit geschlagen sist^,
reiche Gelegenheit, den Wert lebendiger Geschichts- und Litteraturelemente (?) sür
das kindliche Gemüt kennen zu lernen. Hier gilt es anzuknüpfen, um geschichtliche
Vorstellungen, eine geschichtliche Auffassung der Geschichte auszubilden. Für die
deutsche Litteraturgeschichte ist damit nicht nur die Anknüpfung an die unmittel¬
bare (!) Kriegspoesie von 1870/71 gegeben, sondern es ist der methodische Aus¬
gangspunkt für Verfolg (!) der gesamten nationalen Strömung in der Dichtung
unsers Jahrhunderts gewonnen: von Wildenbruch über Richard Wagner und Gustav
Frcytcig bis zu Körner und schließlich bis zu Schiller läßt sich uun auf natürliche
Weise eine feste Kette schlingen (!), deren einzelne Glieder die Wandlungen und
Entwicklungsstufen des nationalen Gedankens repräsentiren." Die Parallele mit
den Worten des Kaisers, der bekanntlich die deutsche Jugend von Sedan und
Gravelotte über Leuthen und Roßbach nach Mantinea und den Thermopylen zurück¬
geführt wissen wollte, ist unverkennbar. Aber schwerlich ist jemals eine Parallele
an unvassenderm Orte gezogen worden als hier. Denn während der Kaiser den


Maßgebliches und Unmaßgebliches

rischen Chronik einmal Fehler im Bau als Wölfe bezeichnet werden. Die Vorsicht
Pauls in Bezug auf bildliche Ausdrücke geht so weit, daß er die Wendung „er
ist die Eule unter den Krähen" mit dem Satze erklärt: „Die Eule gilt nach dem
Volksglauben als Gegenstand des Gespöttes für andre Vögel." Jeder, der die Eule
einmal bei Anbruch des Abends inmitten andrer Vögel vor dem Ausfliegen be¬
obachtet hat, wird hier nicht mehr von Gelten und Volksglauben sprechen, sondern
von einer Thatsache.

Nur ganz vereinzelt wird der Leser finden, daß Paul die Schranken der
Vorsicht etwas überschritten habe. Das gilt z. B. von Angaben wie der, daß da¬
hinten nur bis ins achtzehnte Jahrhundert für „zurück" gebraucht worden sei
(noch heute braucht mau es so in Österreich), wohl auch von der Bemerkung
„bis ins achtzehnte Jahrhundert reicht noch »erziehen können« — imstande sein,
zu ziehen" und dem Zusatz zu errufen: „nicht mehr recht üblich"; in den beiden
letzten Beispielen hat das Präfix eine auf der Grenze von etymologischen und
syntaktischen Inhalt stehende Bedeutung, die in Mitteldeutschland noch durchaus
lebendig ist. Auch in der unbedingten Gleichsetzung heute ungebräuchlicher er¬
Komposita Zerquetschen, ertreten: z. B. ertrat das arme Veilchen) mit unsern ent¬
sprechenden zer-Komposita geht Paul wohl zu weit: Goethe hätte zertreten, Jean
Paul zerquetschen sagen können, wenn sie nicht die sinnliche Vorstellung des Aus¬
einander, die immer noch in zer- enthalten ist, ausdrücklich an ihrer Stelle hätten
vermeiden wollen.

Wir freuen uns auf die Fortsetzung und auf die Vollendung des Werkes,
die sür den Oktober in Aussicht gestellt wird.


Litteraturgeschichtsunterricht uach rückläufiger Methode.

Wenn
die Zeitungen recht berichtet haben, hat Herr Eugen Wolff, früher Privatdozcnr,
jetzt außerordentlicher Professor in Kiel, bereits kurz nachdem vom deutschen Kaiser
für den Geschichtsunterricht die rückläufige Methode empfohlen worden war, nach
dieser Methode über deutsche Litteraturgeschichte gelesen. Neuerdings tritt er dafür
ein, daß dieses Fach auch auf Schulen in gleicher Weise betrieben werde. Der
Zeitschrift für den deutschen Unterricht ist es zu danken, daß die pädagogische Welt
mit Herrn Wolffs Forderungen nicht unbekannt bleibt. „In diesen Tagen leben¬
diger Erinnerung an die um ein Vierteljahrhundert zurückliegenden nationalen Gro߬
thaten, lesen wir auf Seite 303 des letzten Doppelheftes, hat jeder Lehrer der
Geschichte und Litteraturgeschichte, wo (?) er nicht mit Blindheit geschlagen sist^,
reiche Gelegenheit, den Wert lebendiger Geschichts- und Litteraturelemente (?) sür
das kindliche Gemüt kennen zu lernen. Hier gilt es anzuknüpfen, um geschichtliche
Vorstellungen, eine geschichtliche Auffassung der Geschichte auszubilden. Für die
deutsche Litteraturgeschichte ist damit nicht nur die Anknüpfung an die unmittel¬
bare (!) Kriegspoesie von 1870/71 gegeben, sondern es ist der methodische Aus¬
gangspunkt für Verfolg (!) der gesamten nationalen Strömung in der Dichtung
unsers Jahrhunderts gewonnen: von Wildenbruch über Richard Wagner und Gustav
Frcytcig bis zu Körner und schließlich bis zu Schiller läßt sich uun auf natürliche
Weise eine feste Kette schlingen (!), deren einzelne Glieder die Wandlungen und
Entwicklungsstufen des nationalen Gedankens repräsentiren." Die Parallele mit
den Worten des Kaisers, der bekanntlich die deutsche Jugend von Sedan und
Gravelotte über Leuthen und Roßbach nach Mantinea und den Thermopylen zurück¬
geführt wissen wollte, ist unverkennbar. Aber schwerlich ist jemals eine Parallele
an unvassenderm Orte gezogen worden als hier. Denn während der Kaiser den


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[0146] Maßgebliches und Unmaßgebliches rischen Chronik einmal Fehler im Bau als Wölfe bezeichnet werden. Die Vorsicht Pauls in Bezug auf bildliche Ausdrücke geht so weit, daß er die Wendung „er ist die Eule unter den Krähen" mit dem Satze erklärt: „Die Eule gilt nach dem Volksglauben als Gegenstand des Gespöttes für andre Vögel." Jeder, der die Eule einmal bei Anbruch des Abends inmitten andrer Vögel vor dem Ausfliegen be¬ obachtet hat, wird hier nicht mehr von Gelten und Volksglauben sprechen, sondern von einer Thatsache. Nur ganz vereinzelt wird der Leser finden, daß Paul die Schranken der Vorsicht etwas überschritten habe. Das gilt z. B. von Angaben wie der, daß da¬ hinten nur bis ins achtzehnte Jahrhundert für „zurück" gebraucht worden sei (noch heute braucht mau es so in Österreich), wohl auch von der Bemerkung „bis ins achtzehnte Jahrhundert reicht noch »erziehen können« — imstande sein, zu ziehen" und dem Zusatz zu errufen: „nicht mehr recht üblich"; in den beiden letzten Beispielen hat das Präfix eine auf der Grenze von etymologischen und syntaktischen Inhalt stehende Bedeutung, die in Mitteldeutschland noch durchaus lebendig ist. Auch in der unbedingten Gleichsetzung heute ungebräuchlicher er¬ Komposita Zerquetschen, ertreten: z. B. ertrat das arme Veilchen) mit unsern ent¬ sprechenden zer-Komposita geht Paul wohl zu weit: Goethe hätte zertreten, Jean Paul zerquetschen sagen können, wenn sie nicht die sinnliche Vorstellung des Aus¬ einander, die immer noch in zer- enthalten ist, ausdrücklich an ihrer Stelle hätten vermeiden wollen. Wir freuen uns auf die Fortsetzung und auf die Vollendung des Werkes, die sür den Oktober in Aussicht gestellt wird. Litteraturgeschichtsunterricht uach rückläufiger Methode. Wenn die Zeitungen recht berichtet haben, hat Herr Eugen Wolff, früher Privatdozcnr, jetzt außerordentlicher Professor in Kiel, bereits kurz nachdem vom deutschen Kaiser für den Geschichtsunterricht die rückläufige Methode empfohlen worden war, nach dieser Methode über deutsche Litteraturgeschichte gelesen. Neuerdings tritt er dafür ein, daß dieses Fach auch auf Schulen in gleicher Weise betrieben werde. Der Zeitschrift für den deutschen Unterricht ist es zu danken, daß die pädagogische Welt mit Herrn Wolffs Forderungen nicht unbekannt bleibt. „In diesen Tagen leben¬ diger Erinnerung an die um ein Vierteljahrhundert zurückliegenden nationalen Gro߬ thaten, lesen wir auf Seite 303 des letzten Doppelheftes, hat jeder Lehrer der Geschichte und Litteraturgeschichte, wo (?) er nicht mit Blindheit geschlagen sist^, reiche Gelegenheit, den Wert lebendiger Geschichts- und Litteraturelemente (?) sür das kindliche Gemüt kennen zu lernen. Hier gilt es anzuknüpfen, um geschichtliche Vorstellungen, eine geschichtliche Auffassung der Geschichte auszubilden. Für die deutsche Litteraturgeschichte ist damit nicht nur die Anknüpfung an die unmittel¬ bare (!) Kriegspoesie von 1870/71 gegeben, sondern es ist der methodische Aus¬ gangspunkt für Verfolg (!) der gesamten nationalen Strömung in der Dichtung unsers Jahrhunderts gewonnen: von Wildenbruch über Richard Wagner und Gustav Frcytcig bis zu Körner und schließlich bis zu Schiller läßt sich uun auf natürliche Weise eine feste Kette schlingen (!), deren einzelne Glieder die Wandlungen und Entwicklungsstufen des nationalen Gedankens repräsentiren." Die Parallele mit den Worten des Kaisers, der bekanntlich die deutsche Jugend von Sedan und Gravelotte über Leuthen und Roßbach nach Mantinea und den Thermopylen zurück¬ geführt wissen wollte, ist unverkennbar. Aber schwerlich ist jemals eine Parallele an unvassenderm Orte gezogen worden als hier. Denn während der Kaiser den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/146>, abgerufen am 21.11.2024.