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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das soziale Problem

in Begriff, zu einer Versammlung zu gehn, in der die Klage"
des Tages, die Klagen der Landwirte, der Handwerker, des
Mittelstandes erörtert werden sollten, kam ich an einem Spiel¬
platze für Kinder vorbei und sah, wie sich ein Kampf ent¬
sponnen hatte, wer beim Ballspiel zuerst "oben" sein, d. h. den
Ball zuerst schlagen sollte, und wie dieser Kampf mit aller List und Kraft geführt
wurde. Die unterliegende Partei ging mit Verdruß, die siegende mit Freude
und einer gewissen Überhebung an das Spiel heran. Als aber der Ball ge¬
schlagen wurde, wurde er von einem der Unterlegnen aufgefangen, wer "oben"
war, mußte nun "unten" sein, die Freude auf der einen und der Verdruß auf
der andern Seite war in wenigen Minuten ins Gegenteil verwandelt.

An diese Beobachtung mußte ich immer wieder denken während der
langen, stürmischen Debatten, die ich zu hören bekam. Der Hauptredner, der
zuerst sprach, ein alter, ehrenfester Politiker und Großgrundbesitzer, behandelte
die Klagen der Landwirte, die niedrigen Getreidepreise und die Verstaatlichung
des Getreidehandels. Er hatte vor etwas mehr als zwanzig Jahren an der¬
selben Stelle mit gleicher Beredsamkeit die Aufhebung der Eisenzölle be¬
sprochen, da die Landwirtschaft unter den hohen Eisenpreisen nach dem deutsch¬
französischen Kriege litt, aber auch die Notwendigkeit der Verkehrsverbesse¬
rung und Verkehrserleichterung für die Landwirtschaft, da sie ohne solche die
Ausfuhr vou Getreide und Vieh nicht gehörig ausnutzen könne, und hatte sich
über die bald zu erwartende Goldwährung gefreut, der England so manchen
wirtschaftlichen Vorsprung vor uns verdanke.

Bald darauf waren alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen, aber auf
einmal war "unten," wer vor kurzem noch "oben" gewesen war. Das Eisen
war so billig geworden, wie es noch nie gewesen war, man rief nach Schutz


Grenzboten II 189S n


Das soziale Problem

in Begriff, zu einer Versammlung zu gehn, in der die Klage»
des Tages, die Klagen der Landwirte, der Handwerker, des
Mittelstandes erörtert werden sollten, kam ich an einem Spiel¬
platze für Kinder vorbei und sah, wie sich ein Kampf ent¬
sponnen hatte, wer beim Ballspiel zuerst „oben" sein, d. h. den
Ball zuerst schlagen sollte, und wie dieser Kampf mit aller List und Kraft geführt
wurde. Die unterliegende Partei ging mit Verdruß, die siegende mit Freude
und einer gewissen Überhebung an das Spiel heran. Als aber der Ball ge¬
schlagen wurde, wurde er von einem der Unterlegnen aufgefangen, wer „oben"
war, mußte nun „unten" sein, die Freude auf der einen und der Verdruß auf
der andern Seite war in wenigen Minuten ins Gegenteil verwandelt.

An diese Beobachtung mußte ich immer wieder denken während der
langen, stürmischen Debatten, die ich zu hören bekam. Der Hauptredner, der
zuerst sprach, ein alter, ehrenfester Politiker und Großgrundbesitzer, behandelte
die Klagen der Landwirte, die niedrigen Getreidepreise und die Verstaatlichung
des Getreidehandels. Er hatte vor etwas mehr als zwanzig Jahren an der¬
selben Stelle mit gleicher Beredsamkeit die Aufhebung der Eisenzölle be¬
sprochen, da die Landwirtschaft unter den hohen Eisenpreisen nach dem deutsch¬
französischen Kriege litt, aber auch die Notwendigkeit der Verkehrsverbesse¬
rung und Verkehrserleichterung für die Landwirtschaft, da sie ohne solche die
Ausfuhr vou Getreide und Vieh nicht gehörig ausnutzen könne, und hatte sich
über die bald zu erwartende Goldwährung gefreut, der England so manchen
wirtschaftlichen Vorsprung vor uns verdanke.

Bald darauf waren alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen, aber auf
einmal war „unten," wer vor kurzem noch „oben" gewesen war. Das Eisen
war so billig geworden, wie es noch nie gewesen war, man rief nach Schutz


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[0065] [Abbildung] Das soziale Problem in Begriff, zu einer Versammlung zu gehn, in der die Klage» des Tages, die Klagen der Landwirte, der Handwerker, des Mittelstandes erörtert werden sollten, kam ich an einem Spiel¬ platze für Kinder vorbei und sah, wie sich ein Kampf ent¬ sponnen hatte, wer beim Ballspiel zuerst „oben" sein, d. h. den Ball zuerst schlagen sollte, und wie dieser Kampf mit aller List und Kraft geführt wurde. Die unterliegende Partei ging mit Verdruß, die siegende mit Freude und einer gewissen Überhebung an das Spiel heran. Als aber der Ball ge¬ schlagen wurde, wurde er von einem der Unterlegnen aufgefangen, wer „oben" war, mußte nun „unten" sein, die Freude auf der einen und der Verdruß auf der andern Seite war in wenigen Minuten ins Gegenteil verwandelt. An diese Beobachtung mußte ich immer wieder denken während der langen, stürmischen Debatten, die ich zu hören bekam. Der Hauptredner, der zuerst sprach, ein alter, ehrenfester Politiker und Großgrundbesitzer, behandelte die Klagen der Landwirte, die niedrigen Getreidepreise und die Verstaatlichung des Getreidehandels. Er hatte vor etwas mehr als zwanzig Jahren an der¬ selben Stelle mit gleicher Beredsamkeit die Aufhebung der Eisenzölle be¬ sprochen, da die Landwirtschaft unter den hohen Eisenpreisen nach dem deutsch¬ französischen Kriege litt, aber auch die Notwendigkeit der Verkehrsverbesse¬ rung und Verkehrserleichterung für die Landwirtschaft, da sie ohne solche die Ausfuhr vou Getreide und Vieh nicht gehörig ausnutzen könne, und hatte sich über die bald zu erwartende Goldwährung gefreut, der England so manchen wirtschaftlichen Vorsprung vor uns verdanke. Bald darauf waren alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen, aber auf einmal war „unten," wer vor kurzem noch „oben" gewesen war. Das Eisen war so billig geworden, wie es noch nie gewesen war, man rief nach Schutz Grenzboten II 189S n

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/65>, abgerufen am 21.12.2024.