Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Vismarcks schatten

Er selbst leider war nicht mehr zu sehn.

rcmzösische Blätter hatten die alte Geschichte aufgewärmt von
dem angeblichen Plan einer Überrumpelung Frankreichs im
Jahre 1875 -- wie die deutschen Zeitungen meinten, eine
sinnlose Erfindung. Aber die Hamburger Nachrichten entdecken
den Sinn, und wie sie ihn erklären, wird ihn jeder anerkennen.
Es wirkt in den Franzosen das bekannte Bestreben, Irrtümer, die politisch
nützlich sind, von neuem hervorzurufen und festzuhalten. Wird Rußland über¬
zeugt, es habe 1875 Frankreich vor einem ruchlosen Überfall durch Deutschland
gerettet, so wird es sich nach dem psychologischen Gesetz in der Entwicklung
menschlicher Empfindungen in der Beschützerrolle Frankreich gegenüber weiter¬
hin gefallen. "Es liegt in der menschlichen Natur, Wohlwollen für die zu
haben, denen wir Wohlthaten erwiesen, wie Abneigung gegen die, von denen
wir sie empfangen haben. Jedenfalls ist es für die französischen Bündnis¬
bestrebungen nützlich, die Solidarität beider Länder schon von 1875 zu datiren."
An die Erklärung schließt sich ein politisches Mahnwort an: es liege in unserm
Interesse zu thun, was mit Anstand und Wahrheit geschehen könne, um das
Bündnis zu verhindern. "Die Regierung hat das aktenmäßige Material in
den Händen, um die 1875er Legende vollständig zu entkräften."

Wer hinter den Worten den handelnden Menschen sieht, wem der Sinn
auch nur der jüngsten Geschichte in der Seele lebt, dem steigt aus diesen
Sätzen ein mächtiges Bild entgegen. Er erblickt den Kanzler des deutschen
Reichs vor versammeltem Parlament. Die deutschen Männer lauschen ihm,
aber es ist Europa, zu dem er spricht. Er liest die mit dem russischen Mini¬
sterium des Answürtigen gewechselten Depeschen des Jahres 1876 vor. Vor
den zweifellosen Worten der offiziellen Dokumente verschwindet jede Möglichkeit
der Legende. Die Schriftstücke, noch denselben Tag in den Zeitungen erscheinend,
verbreiten die Wahrheit durch alle Welt. Den Empfindungen der Menschen
ist die Möglichkeit genommen, in dem begünstigenden Dunkel nach Wünschen
und Absichten zu schielen. Die Thatsachen zwingen sie nach dem Gesetze des
Realen. Es ist mit der alten sichern Meisterhand auf die Imponderabilien in
der Stimmung der Völker gewirkt, in deren bekannten unwägbaren Momenten
sich vielleicht schwere Gewichte zu Ungunsten des deutschen Reichs bereiteten.


Grenzboten IV 1893 M


Vismarcks schatten

Er selbst leider war nicht mehr zu sehn.

rcmzösische Blätter hatten die alte Geschichte aufgewärmt von
dem angeblichen Plan einer Überrumpelung Frankreichs im
Jahre 1875 — wie die deutschen Zeitungen meinten, eine
sinnlose Erfindung. Aber die Hamburger Nachrichten entdecken
den Sinn, und wie sie ihn erklären, wird ihn jeder anerkennen.
Es wirkt in den Franzosen das bekannte Bestreben, Irrtümer, die politisch
nützlich sind, von neuem hervorzurufen und festzuhalten. Wird Rußland über¬
zeugt, es habe 1875 Frankreich vor einem ruchlosen Überfall durch Deutschland
gerettet, so wird es sich nach dem psychologischen Gesetz in der Entwicklung
menschlicher Empfindungen in der Beschützerrolle Frankreich gegenüber weiter¬
hin gefallen. „Es liegt in der menschlichen Natur, Wohlwollen für die zu
haben, denen wir Wohlthaten erwiesen, wie Abneigung gegen die, von denen
wir sie empfangen haben. Jedenfalls ist es für die französischen Bündnis¬
bestrebungen nützlich, die Solidarität beider Länder schon von 1875 zu datiren."
An die Erklärung schließt sich ein politisches Mahnwort an: es liege in unserm
Interesse zu thun, was mit Anstand und Wahrheit geschehen könne, um das
Bündnis zu verhindern. „Die Regierung hat das aktenmäßige Material in
den Händen, um die 1875er Legende vollständig zu entkräften."

Wer hinter den Worten den handelnden Menschen sieht, wem der Sinn
auch nur der jüngsten Geschichte in der Seele lebt, dem steigt aus diesen
Sätzen ein mächtiges Bild entgegen. Er erblickt den Kanzler des deutschen
Reichs vor versammeltem Parlament. Die deutschen Männer lauschen ihm,
aber es ist Europa, zu dem er spricht. Er liest die mit dem russischen Mini¬
sterium des Answürtigen gewechselten Depeschen des Jahres 1876 vor. Vor
den zweifellosen Worten der offiziellen Dokumente verschwindet jede Möglichkeit
der Legende. Die Schriftstücke, noch denselben Tag in den Zeitungen erscheinend,
verbreiten die Wahrheit durch alle Welt. Den Empfindungen der Menschen
ist die Möglichkeit genommen, in dem begünstigenden Dunkel nach Wünschen
und Absichten zu schielen. Die Thatsachen zwingen sie nach dem Gesetze des
Realen. Es ist mit der alten sichern Meisterhand auf die Imponderabilien in
der Stimmung der Völker gewirkt, in deren bekannten unwägbaren Momenten
sich vielleicht schwere Gewichte zu Ungunsten des deutschen Reichs bereiteten.


Grenzboten IV 1893 M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0641" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216365"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341857_215723/figures/grenzboten_341857_215723_216365_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Vismarcks schatten</head><lb/>
          <quote type="epigraph"> Er selbst leider war nicht mehr zu sehn.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_2478"> rcmzösische Blätter hatten die alte Geschichte aufgewärmt von<lb/>
dem angeblichen Plan einer Überrumpelung Frankreichs im<lb/>
Jahre 1875 &#x2014; wie die deutschen Zeitungen meinten, eine<lb/>
sinnlose Erfindung. Aber die Hamburger Nachrichten entdecken<lb/>
den Sinn, und wie sie ihn erklären, wird ihn jeder anerkennen.<lb/>
Es wirkt in den Franzosen das bekannte Bestreben, Irrtümer, die politisch<lb/>
nützlich sind, von neuem hervorzurufen und festzuhalten. Wird Rußland über¬<lb/>
zeugt, es habe 1875 Frankreich vor einem ruchlosen Überfall durch Deutschland<lb/>
gerettet, so wird es sich nach dem psychologischen Gesetz in der Entwicklung<lb/>
menschlicher Empfindungen in der Beschützerrolle Frankreich gegenüber weiter¬<lb/>
hin gefallen. &#x201E;Es liegt in der menschlichen Natur, Wohlwollen für die zu<lb/>
haben, denen wir Wohlthaten erwiesen, wie Abneigung gegen die, von denen<lb/>
wir sie empfangen haben. Jedenfalls ist es für die französischen Bündnis¬<lb/>
bestrebungen nützlich, die Solidarität beider Länder schon von 1875 zu datiren."<lb/>
An die Erklärung schließt sich ein politisches Mahnwort an: es liege in unserm<lb/>
Interesse zu thun, was mit Anstand und Wahrheit geschehen könne, um das<lb/>
Bündnis zu verhindern. &#x201E;Die Regierung hat das aktenmäßige Material in<lb/>
den Händen, um die 1875er Legende vollständig zu entkräften."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2479" next="#ID_2480"> Wer hinter den Worten den handelnden Menschen sieht, wem der Sinn<lb/>
auch nur der jüngsten Geschichte in der Seele lebt, dem steigt aus diesen<lb/>
Sätzen ein mächtiges Bild entgegen. Er erblickt den Kanzler des deutschen<lb/>
Reichs vor versammeltem Parlament. Die deutschen Männer lauschen ihm,<lb/>
aber es ist Europa, zu dem er spricht. Er liest die mit dem russischen Mini¬<lb/>
sterium des Answürtigen gewechselten Depeschen des Jahres 1876 vor. Vor<lb/>
den zweifellosen Worten der offiziellen Dokumente verschwindet jede Möglichkeit<lb/>
der Legende. Die Schriftstücke, noch denselben Tag in den Zeitungen erscheinend,<lb/>
verbreiten die Wahrheit durch alle Welt. Den Empfindungen der Menschen<lb/>
ist die Möglichkeit genommen, in dem begünstigenden Dunkel nach Wünschen<lb/>
und Absichten zu schielen. Die Thatsachen zwingen sie nach dem Gesetze des<lb/>
Realen. Es ist mit der alten sichern Meisterhand auf die Imponderabilien in<lb/>
der Stimmung der Völker gewirkt, in deren bekannten unwägbaren Momenten<lb/>
sich vielleicht schwere Gewichte zu Ungunsten des deutschen Reichs bereiteten.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1893 M</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0641] [Abbildung] Vismarcks schatten Er selbst leider war nicht mehr zu sehn. rcmzösische Blätter hatten die alte Geschichte aufgewärmt von dem angeblichen Plan einer Überrumpelung Frankreichs im Jahre 1875 — wie die deutschen Zeitungen meinten, eine sinnlose Erfindung. Aber die Hamburger Nachrichten entdecken den Sinn, und wie sie ihn erklären, wird ihn jeder anerkennen. Es wirkt in den Franzosen das bekannte Bestreben, Irrtümer, die politisch nützlich sind, von neuem hervorzurufen und festzuhalten. Wird Rußland über¬ zeugt, es habe 1875 Frankreich vor einem ruchlosen Überfall durch Deutschland gerettet, so wird es sich nach dem psychologischen Gesetz in der Entwicklung menschlicher Empfindungen in der Beschützerrolle Frankreich gegenüber weiter¬ hin gefallen. „Es liegt in der menschlichen Natur, Wohlwollen für die zu haben, denen wir Wohlthaten erwiesen, wie Abneigung gegen die, von denen wir sie empfangen haben. Jedenfalls ist es für die französischen Bündnis¬ bestrebungen nützlich, die Solidarität beider Länder schon von 1875 zu datiren." An die Erklärung schließt sich ein politisches Mahnwort an: es liege in unserm Interesse zu thun, was mit Anstand und Wahrheit geschehen könne, um das Bündnis zu verhindern. „Die Regierung hat das aktenmäßige Material in den Händen, um die 1875er Legende vollständig zu entkräften." Wer hinter den Worten den handelnden Menschen sieht, wem der Sinn auch nur der jüngsten Geschichte in der Seele lebt, dem steigt aus diesen Sätzen ein mächtiges Bild entgegen. Er erblickt den Kanzler des deutschen Reichs vor versammeltem Parlament. Die deutschen Männer lauschen ihm, aber es ist Europa, zu dem er spricht. Er liest die mit dem russischen Mini¬ sterium des Answürtigen gewechselten Depeschen des Jahres 1876 vor. Vor den zweifellosen Worten der offiziellen Dokumente verschwindet jede Möglichkeit der Legende. Die Schriftstücke, noch denselben Tag in den Zeitungen erscheinend, verbreiten die Wahrheit durch alle Welt. Den Empfindungen der Menschen ist die Möglichkeit genommen, in dem begünstigenden Dunkel nach Wünschen und Absichten zu schielen. Die Thatsachen zwingen sie nach dem Gesetze des Realen. Es ist mit der alten sichern Meisterhand auf die Imponderabilien in der Stimmung der Völker gewirkt, in deren bekannten unwägbaren Momenten sich vielleicht schwere Gewichte zu Ungunsten des deutschen Reichs bereiteten. Grenzboten IV 1893 M

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/641
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/641>, abgerufen am 27.06.2024.