Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.23, August ein Strafmandat mit drei Mark Geldstrafe zugestellt, weil er entgegen Die Entscheidung des Amtsgerichts I ist uach unserm Dafürhalten geradezu Die juristische Ungeheuerlichkeit ist aber zugleich eine kolossale sozialpolitische Auch eine Steuerfragc. Mein Kollege sah. und ich. wir stehen in unsrer Kollege sah. ist unverheiratet, hat mich wohl sonst für niemand zu sorgen. Er 23, August ein Strafmandat mit drei Mark Geldstrafe zugestellt, weil er entgegen Die Entscheidung des Amtsgerichts I ist uach unserm Dafürhalten geradezu Die juristische Ungeheuerlichkeit ist aber zugleich eine kolossale sozialpolitische Auch eine Steuerfragc. Mein Kollege sah. und ich. wir stehen in unsrer Kollege sah. ist unverheiratet, hat mich wohl sonst für niemand zu sorgen. Er <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216177"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1637" prev="#ID_1636"> 23, August ein Strafmandat mit drei Mark Geldstrafe zugestellt, weil er entgegen<lb/> der Reichsgewerbeorduung und der Regieruugseutscheidung vom Juni 1892 in<lb/> seinem Filialgeschäfte an der Kanfinger Straße eine Ladnerin in der Zeit von acht bis<lb/> zehn Uhr um 6, August (Sonntag) beschäftigt hatte. Nun ist nach § 105« des<lb/> Strafgesetzbuches den Inhabern von Bäckereien gestattet, Gehilfen Sonntags den<lb/> ganze» Tag über, mit Ausnahme der Vormittagsstunden von acht bis zehn Uhr, zu<lb/> beschäftigen. Seidl erhob daher Einspruch und beantragte richterliche Entscheidung,<lb/> mit der Begründung, daß die Fabrikation um Sonntagen erlaubt sei; die Fabrikation<lb/> sei jedoch noch nicht mit der Herstellung des Brotes beendigt, sondern es gehöre<lb/> dazu anch das Einräumen und Sortiren des Brotes in den einzelnen Läden; der<lb/> Handel beginne erst mit der Abgabe der Ware. Die betreffende Ladnerin habe<lb/> sich auch während der fraglichen Zeit nicht mit dem Verkaufe von Brot, sondern<lb/> mit Sortiren der Ware, Herrichtung und Auslage n. s. w. beschäftigt. Der Amts¬<lb/> anwalt beantragte Verwerfung des Einspruchs, weil eS nicht im Geiste des Gesetzes<lb/> über die Sonntagsruhe liege, wen» eine derartige Beschäftigung stattfinde, da hier¬<lb/> durch der ganze Zweck des Sonutagsruhegesetzes illusorisch gemacht werde, denn<lb/> durch dieses werde angestrebt, daß während der Zeit von acht bis zehn Uhr Per¬<lb/> sonen des Handelsstandes an Sonntagen nicht beschäftigt werden sollen. Das Amts¬<lb/> gericht I entschied sich aber entgegen den Ausführungen des Amtsanwalts zu Gunsten<lb/> des beklagten Seidl und sprach ihn von Schuld und Strafe frei.</p><lb/> <p xml:id="ID_1638"> Die Entscheidung des Amtsgerichts I ist uach unserm Dafürhalten geradezu<lb/> ungeheuerlich! sie widerspricht nicht nur dem Geiste des in Betracht kommenden<lb/> Gesetzes, sondern auch seinem Buchstaben. Der Geist des Gesetzes, um deu sich<lb/> ja freilich unsre Richter selten kümmern, verlangte klar die Freiheit der Ladnerin<lb/> in der Zeit von acht bis zehn Uhr, ohne zu fragen, ob sie mit Sortiren oder Ver¬<lb/> kauf der Backwarcu beschäftigt sei. Der Buchstabe mag das Sortiren und Aus¬<lb/> legen in dieser Zeit gestatten, obgleich uns auch das zweifelhaft erscheint; wir halten<lb/> es vielmehr für eine abgeschmackte Auslegung, diese Herrichtung für den Verkauf<lb/> unter den Begriff der Fabrikation zu ziehen; gehört sie wirklich darunter, so hätte<lb/> sie das Personal der Backstube zu besorgen. Auch lassen wir die Ausrede nicht<lb/> gelten, daß der Bäcker, wenn die Ladnerin erst um zehn Uhr beschäftigt werden<lb/> dürfe, deu Verkauf erst um elf Uhr beginnen könne, weil die Ware doch erst sortirt<lb/> und ausgelegt werden müsse. Wo ist denn da der Schaden? Wird deshalb auch<lb/> uur eine Semmel weniger gebraucht werden?</p><lb/> <p xml:id="ID_1639"> Die juristische Ungeheuerlichkeit ist aber zugleich eine kolossale sozialpolitische<lb/> Dummheit, was in ganz München vielleicht nur das Amtsgericht 1 in seiner be¬<lb/> schränkten Bnchflabengläubigkcit nicht ahnt.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Auch eine Steuerfragc.</head> <p xml:id="ID_1640"> Mein Kollege sah. und ich. wir stehen in unsrer<lb/> amtlichen Stellung und in unserm Einkommen einander völlig gleich: wir haben<lb/> jeder jährlich t!000 Mark Gehalt. In allem andern aber find wir so verschieden<lb/> wie möglich.</p><lb/> <p xml:id="ID_1641" next="#ID_1642"> Kollege sah. ist unverheiratet, hat mich wohl sonst für niemand zu sorgen. Er<lb/> bewohnt zwei fein möblirte Zimmer bei einer ältern Witwe, kleidet sich, obwohl<lb/> er schon ein angehender Fünfziger ist, immer noch höchst elegant und nach der<lb/> neuesten Mode, hat sich schon vor zehn Jahren, als er es wahrhaftig noch nicht<lb/> nötig hatte, einen kostbaren Pelz zugelegt, speist jeden Mittag in einer der feinsten<lb/> Wirtschaften der Stadt und gönnt sich dazu stets einen Schoppen Rotwein, ißt<lb/> zwar abends zu Hause, aber deshalb nicht minder gut als zu Mittag, ist überall</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0453]
23, August ein Strafmandat mit drei Mark Geldstrafe zugestellt, weil er entgegen
der Reichsgewerbeorduung und der Regieruugseutscheidung vom Juni 1892 in
seinem Filialgeschäfte an der Kanfinger Straße eine Ladnerin in der Zeit von acht bis
zehn Uhr um 6, August (Sonntag) beschäftigt hatte. Nun ist nach § 105« des
Strafgesetzbuches den Inhabern von Bäckereien gestattet, Gehilfen Sonntags den
ganze» Tag über, mit Ausnahme der Vormittagsstunden von acht bis zehn Uhr, zu
beschäftigen. Seidl erhob daher Einspruch und beantragte richterliche Entscheidung,
mit der Begründung, daß die Fabrikation um Sonntagen erlaubt sei; die Fabrikation
sei jedoch noch nicht mit der Herstellung des Brotes beendigt, sondern es gehöre
dazu anch das Einräumen und Sortiren des Brotes in den einzelnen Läden; der
Handel beginne erst mit der Abgabe der Ware. Die betreffende Ladnerin habe
sich auch während der fraglichen Zeit nicht mit dem Verkaufe von Brot, sondern
mit Sortiren der Ware, Herrichtung und Auslage n. s. w. beschäftigt. Der Amts¬
anwalt beantragte Verwerfung des Einspruchs, weil eS nicht im Geiste des Gesetzes
über die Sonntagsruhe liege, wen» eine derartige Beschäftigung stattfinde, da hier¬
durch der ganze Zweck des Sonutagsruhegesetzes illusorisch gemacht werde, denn
durch dieses werde angestrebt, daß während der Zeit von acht bis zehn Uhr Per¬
sonen des Handelsstandes an Sonntagen nicht beschäftigt werden sollen. Das Amts¬
gericht I entschied sich aber entgegen den Ausführungen des Amtsanwalts zu Gunsten
des beklagten Seidl und sprach ihn von Schuld und Strafe frei.
Die Entscheidung des Amtsgerichts I ist uach unserm Dafürhalten geradezu
ungeheuerlich! sie widerspricht nicht nur dem Geiste des in Betracht kommenden
Gesetzes, sondern auch seinem Buchstaben. Der Geist des Gesetzes, um deu sich
ja freilich unsre Richter selten kümmern, verlangte klar die Freiheit der Ladnerin
in der Zeit von acht bis zehn Uhr, ohne zu fragen, ob sie mit Sortiren oder Ver¬
kauf der Backwarcu beschäftigt sei. Der Buchstabe mag das Sortiren und Aus¬
legen in dieser Zeit gestatten, obgleich uns auch das zweifelhaft erscheint; wir halten
es vielmehr für eine abgeschmackte Auslegung, diese Herrichtung für den Verkauf
unter den Begriff der Fabrikation zu ziehen; gehört sie wirklich darunter, so hätte
sie das Personal der Backstube zu besorgen. Auch lassen wir die Ausrede nicht
gelten, daß der Bäcker, wenn die Ladnerin erst um zehn Uhr beschäftigt werden
dürfe, deu Verkauf erst um elf Uhr beginnen könne, weil die Ware doch erst sortirt
und ausgelegt werden müsse. Wo ist denn da der Schaden? Wird deshalb auch
uur eine Semmel weniger gebraucht werden?
Die juristische Ungeheuerlichkeit ist aber zugleich eine kolossale sozialpolitische
Dummheit, was in ganz München vielleicht nur das Amtsgericht 1 in seiner be¬
schränkten Bnchflabengläubigkcit nicht ahnt.
Auch eine Steuerfragc. Mein Kollege sah. und ich. wir stehen in unsrer
amtlichen Stellung und in unserm Einkommen einander völlig gleich: wir haben
jeder jährlich t!000 Mark Gehalt. In allem andern aber find wir so verschieden
wie möglich.
Kollege sah. ist unverheiratet, hat mich wohl sonst für niemand zu sorgen. Er
bewohnt zwei fein möblirte Zimmer bei einer ältern Witwe, kleidet sich, obwohl
er schon ein angehender Fünfziger ist, immer noch höchst elegant und nach der
neuesten Mode, hat sich schon vor zehn Jahren, als er es wahrhaftig noch nicht
nötig hatte, einen kostbaren Pelz zugelegt, speist jeden Mittag in einer der feinsten
Wirtschaften der Stadt und gönnt sich dazu stets einen Schoppen Rotwein, ißt
zwar abends zu Hause, aber deshalb nicht minder gut als zu Mittag, ist überall
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