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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Unsre volksschulbildung

ist wirtlich wert, erhalten zu werden zum Nutzen mancher gelehrten Herren
und manches Staatsgcrichtshvfcs. Wenn z. B. bei uns ein Hochverratsprozeß
spielt und der Angeklagte befragt wird: Sie wollen also den Staat über den
Haufen rennen und Gebietsstücke gewaltsam losreißen? so könnte man einem
Geständigen zuweilen auch wie der alte Powel sagen: Nun, stürzen Sie nur
den Staat, und reißen Sie ein Stück ab. Vor der Hand gehen Sie uach Hause."

Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist: in der Frage der Arbeitslosigkeit
haben die Sozialisten gegen die Lobredner der heutigen Gesellschaft Recht; was
die andern drei Punkte anlangt, so mag immerhin die Sterblichkeit und die
Zahl der aus öffentliche" Kassen unterstützten Armen, vielleicht auch die Zahl
der Verbrechen stetig abnehmen, aber zu Gunsten des heute herrschenden
Kapitalismus und Jndustrialismus läßt sich daraus nichts folgern.




Unsre Volksschulbildung

"Wllgemeiue Volksaufklärung, geistige Befreiung der Massen, Be¬
teiligung aller an den Errungenschaften des geistigen Fortschritts,
Popularisirung der Wissenschaften, Hebung des Volksschuluuter-
richts -- so lauten einige jener bestechenden Schlagwörter, mit
denen sich die in unsern Tagen herrschenden sozialpolitischen
Lehren und Gemeinwvhlfahrtsbestrebuugeu einladend zu schmücken lieben. Man
spricht sie mit der gläubigen Verehrung aus und nach, die einem unantast-
baren Dogma gebührt. Wenn sich ein Andersdenkender dabei auf einem skep¬
tischen Wimperzucken betreffen ließe oder sich gar so weit vergäße, es als
einen sozialpolitischen Mißgriff zu beklagen, die untern Volksklassen mit einem
Maß von Wissen und Bildung auszustatten, das über die wirtschaftlichen und
soziale" Lebensbedingungen dieser Klasse" hinausgeht, so thäte er es auf die
Gefahr hiu, von der öffentliche" Meinung zum "lindester als wüster Reaktionär,
wenn nicht gar als Volksfeind und Volksverrüter gebrandmarkt zu werden.
Daher hat es uns, deren Herz sich von derartigen ketzerischen Regungen
keineswegs frei weiß, mit aufrichtiger Genugthuung erfüllt, vor einiger Zeit
ein hochaugesehenes Organ der liberalen Presse, die Hamburger Nachrichten,
einem allmächtigen Vorurteil Trotz bietend, für eine Vereinfachung des Volks¬
schulunterrichts eintreten zu sehen, und zwar nicht etwa deshalb, weil ein auf
eine zu hohe Stufe der Ausbildung abzielender Schulplan eine Vereitlung des
darin vorgesehenen Unterrichtszwecks besorgen lasse, also nicht aus pädagv-


Unsre volksschulbildung

ist wirtlich wert, erhalten zu werden zum Nutzen mancher gelehrten Herren
und manches Staatsgcrichtshvfcs. Wenn z. B. bei uns ein Hochverratsprozeß
spielt und der Angeklagte befragt wird: Sie wollen also den Staat über den
Haufen rennen und Gebietsstücke gewaltsam losreißen? so könnte man einem
Geständigen zuweilen auch wie der alte Powel sagen: Nun, stürzen Sie nur
den Staat, und reißen Sie ein Stück ab. Vor der Hand gehen Sie uach Hause."

Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist: in der Frage der Arbeitslosigkeit
haben die Sozialisten gegen die Lobredner der heutigen Gesellschaft Recht; was
die andern drei Punkte anlangt, so mag immerhin die Sterblichkeit und die
Zahl der aus öffentliche» Kassen unterstützten Armen, vielleicht auch die Zahl
der Verbrechen stetig abnehmen, aber zu Gunsten des heute herrschenden
Kapitalismus und Jndustrialismus läßt sich daraus nichts folgern.




Unsre Volksschulbildung

«Wllgemeiue Volksaufklärung, geistige Befreiung der Massen, Be¬
teiligung aller an den Errungenschaften des geistigen Fortschritts,
Popularisirung der Wissenschaften, Hebung des Volksschuluuter-
richts — so lauten einige jener bestechenden Schlagwörter, mit
denen sich die in unsern Tagen herrschenden sozialpolitischen
Lehren und Gemeinwvhlfahrtsbestrebuugeu einladend zu schmücken lieben. Man
spricht sie mit der gläubigen Verehrung aus und nach, die einem unantast-
baren Dogma gebührt. Wenn sich ein Andersdenkender dabei auf einem skep¬
tischen Wimperzucken betreffen ließe oder sich gar so weit vergäße, es als
einen sozialpolitischen Mißgriff zu beklagen, die untern Volksklassen mit einem
Maß von Wissen und Bildung auszustatten, das über die wirtschaftlichen und
soziale» Lebensbedingungen dieser Klasse» hinausgeht, so thäte er es auf die
Gefahr hiu, von der öffentliche» Meinung zum »lindester als wüster Reaktionär,
wenn nicht gar als Volksfeind und Volksverrüter gebrandmarkt zu werden.
Daher hat es uns, deren Herz sich von derartigen ketzerischen Regungen
keineswegs frei weiß, mit aufrichtiger Genugthuung erfüllt, vor einiger Zeit
ein hochaugesehenes Organ der liberalen Presse, die Hamburger Nachrichten,
einem allmächtigen Vorurteil Trotz bietend, für eine Vereinfachung des Volks¬
schulunterrichts eintreten zu sehen, und zwar nicht etwa deshalb, weil ein auf
eine zu hohe Stufe der Ausbildung abzielender Schulplan eine Vereitlung des
darin vorgesehenen Unterrichtszwecks besorgen lasse, also nicht aus pädagv-


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[0394] Unsre volksschulbildung ist wirtlich wert, erhalten zu werden zum Nutzen mancher gelehrten Herren und manches Staatsgcrichtshvfcs. Wenn z. B. bei uns ein Hochverratsprozeß spielt und der Angeklagte befragt wird: Sie wollen also den Staat über den Haufen rennen und Gebietsstücke gewaltsam losreißen? so könnte man einem Geständigen zuweilen auch wie der alte Powel sagen: Nun, stürzen Sie nur den Staat, und reißen Sie ein Stück ab. Vor der Hand gehen Sie uach Hause." Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist: in der Frage der Arbeitslosigkeit haben die Sozialisten gegen die Lobredner der heutigen Gesellschaft Recht; was die andern drei Punkte anlangt, so mag immerhin die Sterblichkeit und die Zahl der aus öffentliche» Kassen unterstützten Armen, vielleicht auch die Zahl der Verbrechen stetig abnehmen, aber zu Gunsten des heute herrschenden Kapitalismus und Jndustrialismus läßt sich daraus nichts folgern. Unsre Volksschulbildung «Wllgemeiue Volksaufklärung, geistige Befreiung der Massen, Be¬ teiligung aller an den Errungenschaften des geistigen Fortschritts, Popularisirung der Wissenschaften, Hebung des Volksschuluuter- richts — so lauten einige jener bestechenden Schlagwörter, mit denen sich die in unsern Tagen herrschenden sozialpolitischen Lehren und Gemeinwvhlfahrtsbestrebuugeu einladend zu schmücken lieben. Man spricht sie mit der gläubigen Verehrung aus und nach, die einem unantast- baren Dogma gebührt. Wenn sich ein Andersdenkender dabei auf einem skep¬ tischen Wimperzucken betreffen ließe oder sich gar so weit vergäße, es als einen sozialpolitischen Mißgriff zu beklagen, die untern Volksklassen mit einem Maß von Wissen und Bildung auszustatten, das über die wirtschaftlichen und soziale» Lebensbedingungen dieser Klasse» hinausgeht, so thäte er es auf die Gefahr hiu, von der öffentliche» Meinung zum »lindester als wüster Reaktionär, wenn nicht gar als Volksfeind und Volksverrüter gebrandmarkt zu werden. Daher hat es uns, deren Herz sich von derartigen ketzerischen Regungen keineswegs frei weiß, mit aufrichtiger Genugthuung erfüllt, vor einiger Zeit ein hochaugesehenes Organ der liberalen Presse, die Hamburger Nachrichten, einem allmächtigen Vorurteil Trotz bietend, für eine Vereinfachung des Volks¬ schulunterrichts eintreten zu sehen, und zwar nicht etwa deshalb, weil ein auf eine zu hohe Stufe der Ausbildung abzielender Schulplan eine Vereitlung des darin vorgesehenen Unterrichtszwecks besorgen lasse, also nicht aus pädagv-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/394>, abgerufen am 01.09.2024.