Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.Glück und Glas espannter und sorgenvoller kann Kolumbus nicht vom Bord Glück und Glas espannter und sorgenvoller kann Kolumbus nicht vom Bord <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0648" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213762"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341855_213113/figures/grenzboten_341855_213113_213762_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Glück und Glas</head><lb/> <p xml:id="ID_2049" next="#ID_2050"> espannter und sorgenvoller kann Kolumbus nicht vom Bord<lb/> seiner Galeere nach Land ausgeschaut haben, als ein einiger¬<lb/> maßen gewissenhafter Kritiker nach vortrefflichen und viel ver¬<lb/> heißenden neuen Erscheinungen der deutschen Litteratur. Es<lb/> giebt ja ein halbes Dutzend oder vielleicht anch ein Dutzend<lb/> schöpferische und poetische Naturen der ältern Generation, die noch lebensfrisch<lb/> genug sind, dichten und erzählen zu können, und es ist jederzeit wohlthuend,<lb/> wenn ein gutes Buch aus dem Kreise dieser Wohlbekannten veröffentlicht wird;<lb/> aber tröstlich und erquicklich wäre es doch, wenn sich diesen Schriftstellern<lb/> von sechzig, fünfzig und einigen vierzig Jahren junge Talente zugesellen<lb/> wollten, und wenn nicht allein die Lyrik, sondern auch die erzählende und<lb/> dramatische Dichtung neue Kräfte und neue Menschen auszuweisen Hütten. Air<lb/> neuen Namen fehlt es nicht, aber nicht Namen, sondern Werke, greifbare, er¬<lb/> greifende, fesselnde, im Verlauf der Zeit auch erhebende, das Leben unsers<lb/> Volks höher tragende Werke, die sind es, deren wir bedürfen. Wir teilen<lb/> nicht die Anschauung jener Zuversichtlichen, die da finden, daß unsre große<lb/> deutsche Litteratur Schätze genug aufgespeichert habe, um in magern Tagen<lb/> davon zehren zu können. Natürlich ist es unbedenklich und höchstens für den<lb/> Svrtimentsbuchhnndler ärgerlich, wenn Heuer und übers Jahr ein allbegehrtes<lb/> Buch fehlt. Aber im allgemeinen bleibt es ein schweres Gesetz, daß mit der<lb/> lebendigen Schöpfungskraft in einer Litteratur auch die wahre genießende Teil¬<lb/> nahme an deren unsterblichen Besitztümer» stockt und vertrocknet. Die Byzan¬<lb/> tiner des fünften Jahrhunderts, die noch einen Musnos und Nonnos besaßen,<lb/> hatten offenbar mehr von Homer, den Homeriden und den Tragikern des<lb/> klassischen Hellas, als ihre Nachkommen im zehnten und zwölften Jahrhundert.<lb/> Für das Bedürfnis einer lebendigen und fortwirkenden Litteratur ist alle Ver¬<lb/> breitung und Vertiefung der Litteraturgeschichte ein erbärmlicher Trost, und<lb/> weil es so ist, ist auch die Selbsttäuschung optimistisch gestimmter Beurteiler<lb/> neuerer Versuche verzeihlich, die gleich vou außerordentlicher Kraft und<lb/> Vollendung schwärmen, wo ihnen gesunde Begabung und guter Wille be¬<lb/> gegnen. Wie Kolumbus, als er auf die Küste vou Guauahmn stieß, nicht<lb/> darnach fragte, ob er vorlngernde Eilande oder das erhoffte große Festland</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0648]
[Abbildung]
Glück und Glas
espannter und sorgenvoller kann Kolumbus nicht vom Bord
seiner Galeere nach Land ausgeschaut haben, als ein einiger¬
maßen gewissenhafter Kritiker nach vortrefflichen und viel ver¬
heißenden neuen Erscheinungen der deutschen Litteratur. Es
giebt ja ein halbes Dutzend oder vielleicht anch ein Dutzend
schöpferische und poetische Naturen der ältern Generation, die noch lebensfrisch
genug sind, dichten und erzählen zu können, und es ist jederzeit wohlthuend,
wenn ein gutes Buch aus dem Kreise dieser Wohlbekannten veröffentlicht wird;
aber tröstlich und erquicklich wäre es doch, wenn sich diesen Schriftstellern
von sechzig, fünfzig und einigen vierzig Jahren junge Talente zugesellen
wollten, und wenn nicht allein die Lyrik, sondern auch die erzählende und
dramatische Dichtung neue Kräfte und neue Menschen auszuweisen Hütten. Air
neuen Namen fehlt es nicht, aber nicht Namen, sondern Werke, greifbare, er¬
greifende, fesselnde, im Verlauf der Zeit auch erhebende, das Leben unsers
Volks höher tragende Werke, die sind es, deren wir bedürfen. Wir teilen
nicht die Anschauung jener Zuversichtlichen, die da finden, daß unsre große
deutsche Litteratur Schätze genug aufgespeichert habe, um in magern Tagen
davon zehren zu können. Natürlich ist es unbedenklich und höchstens für den
Svrtimentsbuchhnndler ärgerlich, wenn Heuer und übers Jahr ein allbegehrtes
Buch fehlt. Aber im allgemeinen bleibt es ein schweres Gesetz, daß mit der
lebendigen Schöpfungskraft in einer Litteratur auch die wahre genießende Teil¬
nahme an deren unsterblichen Besitztümer» stockt und vertrocknet. Die Byzan¬
tiner des fünften Jahrhunderts, die noch einen Musnos und Nonnos besaßen,
hatten offenbar mehr von Homer, den Homeriden und den Tragikern des
klassischen Hellas, als ihre Nachkommen im zehnten und zwölften Jahrhundert.
Für das Bedürfnis einer lebendigen und fortwirkenden Litteratur ist alle Ver¬
breitung und Vertiefung der Litteraturgeschichte ein erbärmlicher Trost, und
weil es so ist, ist auch die Selbsttäuschung optimistisch gestimmter Beurteiler
neuerer Versuche verzeihlich, die gleich vou außerordentlicher Kraft und
Vollendung schwärmen, wo ihnen gesunde Begabung und guter Wille be¬
gegnen. Wie Kolumbus, als er auf die Küste vou Guauahmn stieß, nicht
darnach fragte, ob er vorlngernde Eilande oder das erhoffte große Festland
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