Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches des "Vorwärts" hat sich so sehr überarbeitet, daß seine Zierden zerrüttet sind. Es giebt jedoch Genossen, die so vernünftig sind, eine gesundheitsgemäße Der Fall Bernond. Der Inspektor eines auf schweizerischem Boden ge¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches des „Vorwärts" hat sich so sehr überarbeitet, daß seine Zierden zerrüttet sind. Es giebt jedoch Genossen, die so vernünftig sind, eine gesundheitsgemäße Der Fall Bernond. Der Inspektor eines auf schweizerischem Boden ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213613"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1516" prev="#ID_1515"> des „Vorwärts" hat sich so sehr überarbeitet, daß seine Zierden zerrüttet sind.<lb/> Liebknecht ist ans härteren Stoff, aber was wird nicht alles von ihm verlangt:<lb/> „er ist Chefredakteur, Parteischriftsteller, Agitator, Führer, Abgeordneter." Wahr¬<lb/> haftig, das ist zuviel des Guten, aber es muß sein, weil sich kein Ersatz schaffen<lb/> läßt. Auch Bebel ist ein geplagter Mensch: er müßte, wenn er allen Anforderungen,<lb/> die an ihn herantreten, genügen wollte, nicht 300, sondern 600 Arbeitstage im<lb/> Jahre zur Verfügung haben, er ist so überlastet, daß er zu seinen Arbeiten häufig<lb/> die späte Nacht in Anspruch nehmen muß. Wie der Bericht des Pnrteivorstauds<lb/> hervorgehoben hatte, ist für die an der Parteipresse angestellten und die sonstigen<lb/> in der Partei rednerisch thätigen Genossen „allesamt von Nacht- und Sonntags¬<lb/> ruhe nur zu oft keine Rede." Die Armen!</p><lb/> <p xml:id="ID_1517"> Es giebt jedoch Genossen, die so vernünftig sind, eine gesundheitsgemäße<lb/> Lebensweise zu sichren und die wilde Jagd nach dem fernen „Ziel" nicht durch<lb/> Dick und Dünn mitzumachen. An ihrer Spitze steht, man muß es sagen, anch wenn<lb/> man nie zu denen gehört hat, die an eine Spaltung der Partei glaubten, Herr<lb/> v. Vollmar; er unterscheidet sich auch hierin sehr vortrefflich von seinen Kollegen,<lb/> er wandelt hierin wie in seinen theoretischen Auffassungen ruhig und sicher seine<lb/> eigne Bahn, er ist Sozialdemokrat, ohne stets den Stürmer und Dränger zu<lb/> spielen. Das ist schließlich eine Sache des Temperaments; aber die andern könnten<lb/> ihre ruhigern Genossen zuweilen zum Muster nehmen, um sich nicht zu schnell<lb/> aufzureiben und abzunutzen.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Der Fall Bernond.</head> <p xml:id="ID_1518" next="#ID_1519"> Der Inspektor eines auf schweizerischem Boden ge¬<lb/> legnen französischen Bahnhofes wird auf Befehl des französischen Bautenministers<lb/> entlassen, weil er bei einem schweizerischen Offiziersfeste veranlaßt hatte, daß eine<lb/> gegen die Weisung des Festausschusses ausgesteckte französische Flagge mit einer<lb/> schweizerischen vertauscht wurde; der aus Franzosen und Schweizern bestehende<lb/> Verwaltungsrat wird über die Entlassung nicht befragt, obwohl das Gesetz dies<lb/> vorschreibt. Das ist der an sich unbedeutende Vorfall, der seit einigen Wochen die<lb/> französische und die schweizerische Presse in Aufregung setzt und sogar zu wieder¬<lb/> holten amtlichen Besprechungen zwischen dem französischen Minister des Auswär¬<lb/> tigen und dem schweizerischen Gesandten geführt hat. Für uns hat die ganze<lb/> kleinliche, von dein Klatsch und Von der Anmaßung der französischen Kolonie in<lb/> Genf aufgebauschte Geschichte nur als ein Zeichen der schiefen Stellung Interesse,<lb/> in die sich die Schweizer mit ihrer Französelei gebracht haben. Wir haben wieder¬<lb/> holt der halt- und maßlosen Freundschaftskundgebungen gedacht, in denen sich<lb/> schweizerische Volksredner bis zum Buudespräsidenten hinauf und schweizerische Zei¬<lb/> tungen vor den Franzosen ergehen. Die Schweizer haben in ihrer übertriebnen<lb/> Empfindlichkeit darin eine neidische und sogar böswillige Kritik gesehen. Plötzlich<lb/> lesen wir in Schweizer Blättern genau dieselbe Klage, die wir erhoben haben. Nun<lb/> erzählen sie selbst: „Bei allen Genfer Festlichkeiten, namentlich wenn diese einen<lb/> internationalen Charakter trugen, bestand der Schmuck der Straßen und öffentlichen<lb/> Plätze aus fremden Fahnen, unter denen die französischen Farben gewöhnlich in<lb/> solcher Menge vorherrschten, daß man fast den Eindruck gewann, als sei man in<lb/> Genf in einer französischen Stadt. Noch bei dem vorjährigen Turnfeste wurde das<lb/> zu zahlreiche Vorhandensein der französischen Fahnen und das gar zu häufige Ab¬<lb/> spielen der Marseillaise von Genfern sowohl als anch von Deutschschweizern mi߬<lb/> fällig bemerkt und öffentlich gerügt." Natürlich, wenn man den Backenstreich weg¬<lb/> hat — und die feinen Französlein verstehen brutal zuzuschlagen —, dann steigt die</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0499]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
des „Vorwärts" hat sich so sehr überarbeitet, daß seine Zierden zerrüttet sind.
Liebknecht ist ans härteren Stoff, aber was wird nicht alles von ihm verlangt:
„er ist Chefredakteur, Parteischriftsteller, Agitator, Führer, Abgeordneter." Wahr¬
haftig, das ist zuviel des Guten, aber es muß sein, weil sich kein Ersatz schaffen
läßt. Auch Bebel ist ein geplagter Mensch: er müßte, wenn er allen Anforderungen,
die an ihn herantreten, genügen wollte, nicht 300, sondern 600 Arbeitstage im
Jahre zur Verfügung haben, er ist so überlastet, daß er zu seinen Arbeiten häufig
die späte Nacht in Anspruch nehmen muß. Wie der Bericht des Pnrteivorstauds
hervorgehoben hatte, ist für die an der Parteipresse angestellten und die sonstigen
in der Partei rednerisch thätigen Genossen „allesamt von Nacht- und Sonntags¬
ruhe nur zu oft keine Rede." Die Armen!
Es giebt jedoch Genossen, die so vernünftig sind, eine gesundheitsgemäße
Lebensweise zu sichren und die wilde Jagd nach dem fernen „Ziel" nicht durch
Dick und Dünn mitzumachen. An ihrer Spitze steht, man muß es sagen, anch wenn
man nie zu denen gehört hat, die an eine Spaltung der Partei glaubten, Herr
v. Vollmar; er unterscheidet sich auch hierin sehr vortrefflich von seinen Kollegen,
er wandelt hierin wie in seinen theoretischen Auffassungen ruhig und sicher seine
eigne Bahn, er ist Sozialdemokrat, ohne stets den Stürmer und Dränger zu
spielen. Das ist schließlich eine Sache des Temperaments; aber die andern könnten
ihre ruhigern Genossen zuweilen zum Muster nehmen, um sich nicht zu schnell
aufzureiben und abzunutzen.
Der Fall Bernond. Der Inspektor eines auf schweizerischem Boden ge¬
legnen französischen Bahnhofes wird auf Befehl des französischen Bautenministers
entlassen, weil er bei einem schweizerischen Offiziersfeste veranlaßt hatte, daß eine
gegen die Weisung des Festausschusses ausgesteckte französische Flagge mit einer
schweizerischen vertauscht wurde; der aus Franzosen und Schweizern bestehende
Verwaltungsrat wird über die Entlassung nicht befragt, obwohl das Gesetz dies
vorschreibt. Das ist der an sich unbedeutende Vorfall, der seit einigen Wochen die
französische und die schweizerische Presse in Aufregung setzt und sogar zu wieder¬
holten amtlichen Besprechungen zwischen dem französischen Minister des Auswär¬
tigen und dem schweizerischen Gesandten geführt hat. Für uns hat die ganze
kleinliche, von dein Klatsch und Von der Anmaßung der französischen Kolonie in
Genf aufgebauschte Geschichte nur als ein Zeichen der schiefen Stellung Interesse,
in die sich die Schweizer mit ihrer Französelei gebracht haben. Wir haben wieder¬
holt der halt- und maßlosen Freundschaftskundgebungen gedacht, in denen sich
schweizerische Volksredner bis zum Buudespräsidenten hinauf und schweizerische Zei¬
tungen vor den Franzosen ergehen. Die Schweizer haben in ihrer übertriebnen
Empfindlichkeit darin eine neidische und sogar böswillige Kritik gesehen. Plötzlich
lesen wir in Schweizer Blättern genau dieselbe Klage, die wir erhoben haben. Nun
erzählen sie selbst: „Bei allen Genfer Festlichkeiten, namentlich wenn diese einen
internationalen Charakter trugen, bestand der Schmuck der Straßen und öffentlichen
Plätze aus fremden Fahnen, unter denen die französischen Farben gewöhnlich in
solcher Menge vorherrschten, daß man fast den Eindruck gewann, als sei man in
Genf in einer französischen Stadt. Noch bei dem vorjährigen Turnfeste wurde das
zu zahlreiche Vorhandensein der französischen Fahnen und das gar zu häufige Ab¬
spielen der Marseillaise von Genfern sowohl als anch von Deutschschweizern mi߬
fällig bemerkt und öffentlich gerügt." Natürlich, wenn man den Backenstreich weg¬
hat — und die feinen Französlein verstehen brutal zuzuschlagen —, dann steigt die
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