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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

in euerm Herzen, da ihr den Allgewaltigen abzubilden wagt, um ihn um
Pfennige an Kinder und alte Weiber zu verkaufen. Doch wir sind Menschen,
und das Höchste aller Erkenntnis ist, daß wir nichts andres sein können.

Ich wollte Einwendungen machen, aber ~ der Alte war verschwunden.
Fröstelnd blieb ich stehen und schaute mich um; nichts! Er war wie in die
Erde versunken.

Ein junger Mann, dein ich wohl im Wege stand, stieß mich zur Seite;
ich sehe ihm nach: Schuhe mit Dolchspitzcn, ein Hut ohne Krempe tief in die
Stirn gedrückt, ein knappes Röcklein, das doch noch zwei Finger breit unter
dem Überröcke hervorlugt, der Gang vornübergebeugt, Riickenmarkschwindsucht
"markirend," ein dreizölliger Knüppel in der Rechten, Handschuhe im aufgekrem¬
pelten Beinkleid -- soos llomo! Ein Mensch aus dem "normalen" Ende
des neunzehnten Jahrhunderts.

In der Vorstadt, in der ich wohne, hemmte ein großer Auflauf meine
Schritte. Wühler Lärm, Schreien und Johlen tönte aus den zu ebner Erde
gelegenen Fenstern eines Versammlungssaales. An den Wänden prangten
rote Fahnen, und über der Rednertribüne war in großen Lettern weithin
sichtbar zu lesen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und im Saale selbst
tobten die Massen wie wahnsinnig gegen einander. Bierseidel flogen hinüber
und herüber, und die freien, gleichen Menschen sanden nicht Stuhlbeine genug,
sich die Brüderlichkeit auszulegen. Ans der "Tagesordnung" fremd: Beratung
über den Normalarbeitstag.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
^.nÄiatur ot altsi'-i. xars.

Die "Kasernenstudien" im 41. Hefte dieser
Blätter haben sicherlich ihre volle Berechtigung und haben deshalb auch die ver¬
diente Berücksichtigung gefunden. Nur scheint es nicht richtig, aus den gemachten Be¬
obachtungen Folgerungen auf die ganze Einrichtung zu ziehen und diese zu verwerfen,
d. h. die Unzufriedenheit einiger Leute des dritten Jahrgangs zum Anlaß zu
macheu, das Gebäude der dreijährige" Dienstzeit, das sich nicht nur in den deutschen
Kasernen und Heereseinrichtungen eingelebt, sondern auch in den preußischen Pro¬
vinzen tiefe Wurzeln im Volksleben geschlagen hat, umzustürzen. Denn das
Mttntelchen, das der zweijährigen Dienstzeit in der Vorlage umgehangen wird, ist
doch zu fadenscheinig.

Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, mit sitzengebliebnen Schülern oder durch-
gefallenen Examinanden zu sprechen, der wird sehr bald gemerkt haben, daß diese
jungen Leute unzufrieden sind, aber auch daß sie selten die besten Bestandteile der
Klassen bilden. Niemandem wird es aber einfallen, deshalb zu verlangen, daß


Grenzboten IV 1892 3b
Maßgebliches und Unmaßgebliches

in euerm Herzen, da ihr den Allgewaltigen abzubilden wagt, um ihn um
Pfennige an Kinder und alte Weiber zu verkaufen. Doch wir sind Menschen,
und das Höchste aller Erkenntnis ist, daß wir nichts andres sein können.

Ich wollte Einwendungen machen, aber ~ der Alte war verschwunden.
Fröstelnd blieb ich stehen und schaute mich um; nichts! Er war wie in die
Erde versunken.

Ein junger Mann, dein ich wohl im Wege stand, stieß mich zur Seite;
ich sehe ihm nach: Schuhe mit Dolchspitzcn, ein Hut ohne Krempe tief in die
Stirn gedrückt, ein knappes Röcklein, das doch noch zwei Finger breit unter
dem Überröcke hervorlugt, der Gang vornübergebeugt, Riickenmarkschwindsucht
„markirend," ein dreizölliger Knüppel in der Rechten, Handschuhe im aufgekrem¬
pelten Beinkleid — soos llomo! Ein Mensch aus dem „normalen" Ende
des neunzehnten Jahrhunderts.

In der Vorstadt, in der ich wohne, hemmte ein großer Auflauf meine
Schritte. Wühler Lärm, Schreien und Johlen tönte aus den zu ebner Erde
gelegenen Fenstern eines Versammlungssaales. An den Wänden prangten
rote Fahnen, und über der Rednertribüne war in großen Lettern weithin
sichtbar zu lesen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und im Saale selbst
tobten die Massen wie wahnsinnig gegen einander. Bierseidel flogen hinüber
und herüber, und die freien, gleichen Menschen sanden nicht Stuhlbeine genug,
sich die Brüderlichkeit auszulegen. Ans der „Tagesordnung" fremd: Beratung
über den Normalarbeitstag.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
^.nÄiatur ot altsi'-i. xars.

Die „Kasernenstudien" im 41. Hefte dieser
Blätter haben sicherlich ihre volle Berechtigung und haben deshalb auch die ver¬
diente Berücksichtigung gefunden. Nur scheint es nicht richtig, aus den gemachten Be¬
obachtungen Folgerungen auf die ganze Einrichtung zu ziehen und diese zu verwerfen,
d. h. die Unzufriedenheit einiger Leute des dritten Jahrgangs zum Anlaß zu
macheu, das Gebäude der dreijährige» Dienstzeit, das sich nicht nur in den deutschen
Kasernen und Heereseinrichtungen eingelebt, sondern auch in den preußischen Pro¬
vinzen tiefe Wurzeln im Volksleben geschlagen hat, umzustürzen. Denn das
Mttntelchen, das der zweijährigen Dienstzeit in der Vorlage umgehangen wird, ist
doch zu fadenscheinig.

Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, mit sitzengebliebnen Schülern oder durch-
gefallenen Examinanden zu sprechen, der wird sehr bald gemerkt haben, daß diese
jungen Leute unzufrieden sind, aber auch daß sie selten die besten Bestandteile der
Klassen bilden. Niemandem wird es aber einfallen, deshalb zu verlangen, daß


Grenzboten IV 1892 3b
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/281>, abgerufen am 22.12.2024.