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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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man dort so schön sagte, an der ?g,d1o et'kutes -- fanden sich aber anch andre,
anscheinend wenig erholungsbedürftige Personen ein, von denen man anzunehmen
geneigt war, daß sie sich des Vergnügens wegen in den Badetrubel gestürzt hätten.
Ich machte die Bekanntschaft einiger urkräftiger Landleute mit frischer brauner
Gesichtsfarbe, wahrer Urbilder der Gesundheit, und wir tauschten die üblichen Fragen
über das Woher und Wohin und das Warum aus. Wie erstaunte ich nun da, als
einer von ihnen, der mit Familie gekommen war, ein Gutsbesitzer, der so gesund
wie die andern aussah, auf meine Erkundigung, ob er bade, antwortete, daß ihm
das Baden nicht bekäme, daß es ihm -- seine Nerven nicht gestatteten. Was,
Sie sind nervös? Nicht möglich! Wir Städter, die wir uns von dem einfachen
Naturleben abgekehrt haben, wir sind natürlich nervös, aber ihr Herren vom
Lande! -- Ich bin, erwiderte er, so nervenschwach, wie einer nur sein kann. Meine
Aufregung ist oft so groß, daß ich mich mit keinem Menschen unterhalten mag,
und am liebsten sitze ich hier in einem abgelegnen Winkel auf der Düne und sehe
still und selbstvergessen ans das herrliche, weite, wogende Meer. Mit meiner
Nervosität habe ich sogar Frau und Kinder angesteckt, wir sind alle zusammen
nervös. -- Aber wodurch können Sie das nur geworden sein? -- Ja sehen Sie,
ich hatte ein ziemlich großes Gut, und obwohl ich einen Teil verkauft habe, tun
mir die Arbeit zu erleichtern, so sind doch heutzutage die Leute so anspruchsvoll,
daß mit ihnen gar nicht auszukommen ist; hat man keine Arbeiter, so weiß man
nicht, wo ein und aus, und hat man welche, so möchte man sie am liebsten wieder
los sein. Ja wenn man die Arbeit allein machen könnte! Ich habe die Scherereien
und den ewigen Ärger satt. Das macht mich krank, und wir haben uns ent¬
schlösse:,, obwohl ich sonst ganz rüstig bin, in die Stadt zu ziehn. -- Haben Sie
denn soviel zurückgelegt, daß Sie von Ihren Renten leben können? -- Zum Glück
habe ich den einen Teil meines Besitzes gut verkauft, und ich hoffe, wenn alles
gut geht, Vermögen genug zu habe", existiren zu können; übrigens werden wir
uns einschränken, und wir haben ja nur zwei Kinder. Solange sich meine Nerven
nicht wieder erholt haben, solange ich nicht wieder besser schlafen kann, sind wir,
ich und meine von Kopfschmerzen geplagte Frau, nur halbe Menschen.

Ich verabschiedete mich und setzte meinen Weg allein fort, in Gedanken über
diesen neuen Beitrag zur sozialen Frage unsrer Zeit, über die ländliche Arbeiternot,
über das Anwachsen der großen Städte, über die Zunahme der Luftkurorte,
Sommerfrischen und Seebadeörter. Der nervöse Gutsbesitzer! -- sollte es der¬
gleichen jemals in irgend einer frühern Zeit gegeben haben? Der nervöse Guts¬
besitzer -- das ist die neueste, "hoch"moderne Errungenschaft.




Litteratur
Zur Musik. Sechzehn Aufsätze von Philipp Spitta. Berlin, Gebrüder Paetel, 1892

Spitta vereinigt wie vielleicht heute kein andrer auf musikalischen Gebiete
die verschiednen Seiten der Kunstwissenschaft, die philosophische, die physikalisch¬
mathematische, die geschichtliche und die philologische. Die hier gesammelten Sees-


Litteratur

man dort so schön sagte, an der ?g,d1o et'kutes — fanden sich aber anch andre,
anscheinend wenig erholungsbedürftige Personen ein, von denen man anzunehmen
geneigt war, daß sie sich des Vergnügens wegen in den Badetrubel gestürzt hätten.
Ich machte die Bekanntschaft einiger urkräftiger Landleute mit frischer brauner
Gesichtsfarbe, wahrer Urbilder der Gesundheit, und wir tauschten die üblichen Fragen
über das Woher und Wohin und das Warum aus. Wie erstaunte ich nun da, als
einer von ihnen, der mit Familie gekommen war, ein Gutsbesitzer, der so gesund
wie die andern aussah, auf meine Erkundigung, ob er bade, antwortete, daß ihm
das Baden nicht bekäme, daß es ihm — seine Nerven nicht gestatteten. Was,
Sie sind nervös? Nicht möglich! Wir Städter, die wir uns von dem einfachen
Naturleben abgekehrt haben, wir sind natürlich nervös, aber ihr Herren vom
Lande! — Ich bin, erwiderte er, so nervenschwach, wie einer nur sein kann. Meine
Aufregung ist oft so groß, daß ich mich mit keinem Menschen unterhalten mag,
und am liebsten sitze ich hier in einem abgelegnen Winkel auf der Düne und sehe
still und selbstvergessen ans das herrliche, weite, wogende Meer. Mit meiner
Nervosität habe ich sogar Frau und Kinder angesteckt, wir sind alle zusammen
nervös. — Aber wodurch können Sie das nur geworden sein? — Ja sehen Sie,
ich hatte ein ziemlich großes Gut, und obwohl ich einen Teil verkauft habe, tun
mir die Arbeit zu erleichtern, so sind doch heutzutage die Leute so anspruchsvoll,
daß mit ihnen gar nicht auszukommen ist; hat man keine Arbeiter, so weiß man
nicht, wo ein und aus, und hat man welche, so möchte man sie am liebsten wieder
los sein. Ja wenn man die Arbeit allein machen könnte! Ich habe die Scherereien
und den ewigen Ärger satt. Das macht mich krank, und wir haben uns ent¬
schlösse:,, obwohl ich sonst ganz rüstig bin, in die Stadt zu ziehn. — Haben Sie
denn soviel zurückgelegt, daß Sie von Ihren Renten leben können? — Zum Glück
habe ich den einen Teil meines Besitzes gut verkauft, und ich hoffe, wenn alles
gut geht, Vermögen genug zu habe«, existiren zu können; übrigens werden wir
uns einschränken, und wir haben ja nur zwei Kinder. Solange sich meine Nerven
nicht wieder erholt haben, solange ich nicht wieder besser schlafen kann, sind wir,
ich und meine von Kopfschmerzen geplagte Frau, nur halbe Menschen.

Ich verabschiedete mich und setzte meinen Weg allein fort, in Gedanken über
diesen neuen Beitrag zur sozialen Frage unsrer Zeit, über die ländliche Arbeiternot,
über das Anwachsen der großen Städte, über die Zunahme der Luftkurorte,
Sommerfrischen und Seebadeörter. Der nervöse Gutsbesitzer! — sollte es der¬
gleichen jemals in irgend einer frühern Zeit gegeben haben? Der nervöse Guts¬
besitzer — das ist die neueste, „hoch"moderne Errungenschaft.




Litteratur
Zur Musik. Sechzehn Aufsätze von Philipp Spitta. Berlin, Gebrüder Paetel, 1892

Spitta vereinigt wie vielleicht heute kein andrer auf musikalischen Gebiete
die verschiednen Seiten der Kunstwissenschaft, die philosophische, die physikalisch¬
mathematische, die geschichtliche und die philologische. Die hier gesammelten Sees-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/535>, abgerufen am 05.01.2025.