Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Schätzung sein. Die Rechnung: Wenn eine von diesen Millionen gleich im An¬ Wenn wir eine Choleramobilmachuug besessen hätten, so würden am An¬ Der nervöse Gutsbesitzer. Als geplagter Städter mit "sitzender" Be¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches Schätzung sein. Die Rechnung: Wenn eine von diesen Millionen gleich im An¬ Wenn wir eine Choleramobilmachuug besessen hätten, so würden am An¬ Der nervöse Gutsbesitzer. Als geplagter Städter mit „sitzender" Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0534" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213010"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1785" prev="#ID_1784"> Schätzung sein. Die Rechnung: Wenn eine von diesen Millionen gleich im An¬<lb/> fang zur Abwehr verwendet worden wäre, würden die übrigen erspart worden<lb/> sein, ist sicherlich richtig. Hieraus eiuen Vorwurf gegen die Hamburger Behörden<lb/> abzuleiten, wäre ebenso verkehrt wie ungerecht — der Richter über eine That darf<lb/> von ihren Folgen durchaus nicht mehr wissen, als der Vorgeladne davon hat wissen<lb/> können, wohl aber liegt in jenem Schluß eine Lehre für die Zukunft. Die Ver¬<lb/> luste, die Verwirrung, die nachhaltigen Schäden, die die Ansteckung mit einer<lb/> Seuche über eine große Stadt verhängt, find bei der gegenwärtigen internationalen<lb/> Achtung so ungeheuer, daß die zur Verhütung oder Abkürzung dieses Zustandes<lb/> bisher aufgewendete» Mittel viel zu gering erscheinen. Was soll in Zukunft ge¬<lb/> schehen? Das ist eine weite Frage, bei der die verschiedensten Zweige des Staats¬<lb/> dienstes mit der Wissenschaft beratend werden zusammenwirken müssen. Aber ein<lb/> die ganze Weise der Abwehr bestimmender Gedanke ist mit einem einzigen Worte<lb/> gegeben, mit dem Worte: Seucheumobilmachung, Ist eine Volksseuche ein weniger<lb/> entschloßner Feind, als ein ländergieriger Nachbar? Oder sind die Verluste, die<lb/> von dem menschlichen Feinde drohen, so viel schwerer, daß gegen eine Seuche die<lb/> Mobilmachung einer einzelnen Stadt, eines Viertels einer Stadt als übermäßiger<lb/> Aufwand erschiene? Wenn man einig darüber ist, daß gegen eine allgemeine Ge¬<lb/> fahr Alle für Einen und Einer für Alle stehn müssen, so würde ein Widerspruch<lb/> darin liegen, den allgemeinen Widerstand nicht durch Organisation verzehnfachen<lb/> zu wollen. Eine bereit gehaltne Rolle würde etwa für jeden heranzuziehenden an¬<lb/> sässigen Bürger seinen Dienst im Fall des Ausrufs feststellen; ein Kennzeichen<lb/> würde ihn zum Staatsbeamte» machen, dem in seinem Dienst Gehorsam zu leisten<lb/> ist. Die gesundheitlich richtige Haltung der Wohnungen, die Essensbereituug, die<lb/> schleunige Ermittlung der Erkrankungen, die Feststellung der zukommenden Fremden<lb/> — sind einige von den Aufgaben, die nur auf diesem Wege völlig zu lösen sind<lb/> und denen die gewöhnliche Beamtenschaft selbst bei äußerster Anstrengung ihrer<lb/> Kräfte lange nicht gewachsen ist. Die Zuteilung einer wohl erläuterte» Dienst¬<lb/> anweisung an jeden Dienstpflichtigen, die Einberufung zu einer Übung — eine<lb/> Übnngsmobilmachung in der Zeit der Gefahr eines Seucheneinbruchs — und vieles<lb/> andre würde sich in der Entwicklung des Gedankens, der hier nur mit wenigen<lb/> Worten angeboten werden soll, von selber ergeben. Die Stärkung des Gemein¬<lb/> gefühls, die vom Staat ausgehende Erweckung der Einsicht, daß das Gemeinwesen<lb/> jeden Bürger jederzeit als Beamten heranziehen kann, die Entwindung dieser Wahr¬<lb/> heit aus den Händen der Sozinlistenpropheten durch den bestehenden Staat — das<lb/> sind Betrachtungen, zu denen der Gegenstand fernerhin anregt, die aber in die<lb/> Geschlossenheit dieses Vorschlages nicht mehr hinein gehören.</p><lb/> <p xml:id="ID_1786"> Wenn wir eine Choleramobilmachuug besessen hätten, so würden am An¬<lb/> steckungsherd in den schlimmsten Tagen nicht so viel Kräfte der Nation, wie gegen¬<lb/> wärtig in einem weiten Gebiete Wochen hindurch durch diesen Feind abgezogen,<lb/> und ungeheure wirtschaftliche Werte und viele Menschenleben würden erhalten<lb/> worden sein.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Der nervöse Gutsbesitzer.</head> <p xml:id="ID_1787" next="#ID_1788"> Als geplagter Städter mit „sitzender" Be¬<lb/> schäftigung hatte ich mich zur Auffrischung meiner Nerven auf einige Wochen in<lb/> ein wegen seiner Luft und seiner Wellen vielbesuchtes Seebad begeben. Die<lb/> Mehrzahl der Badegäste bestand, wie man bald bemerken konnte, aus Großstädtern;<lb/> unsre deutschen Steinkolosse Hamburg und Berlin schienen zu dem Zuzug stadt¬<lb/> müder Leute das meiste beigetragen zu haben. Am Mittagstisch — oder, wie</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0534]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Schätzung sein. Die Rechnung: Wenn eine von diesen Millionen gleich im An¬
fang zur Abwehr verwendet worden wäre, würden die übrigen erspart worden
sein, ist sicherlich richtig. Hieraus eiuen Vorwurf gegen die Hamburger Behörden
abzuleiten, wäre ebenso verkehrt wie ungerecht — der Richter über eine That darf
von ihren Folgen durchaus nicht mehr wissen, als der Vorgeladne davon hat wissen
können, wohl aber liegt in jenem Schluß eine Lehre für die Zukunft. Die Ver¬
luste, die Verwirrung, die nachhaltigen Schäden, die die Ansteckung mit einer
Seuche über eine große Stadt verhängt, find bei der gegenwärtigen internationalen
Achtung so ungeheuer, daß die zur Verhütung oder Abkürzung dieses Zustandes
bisher aufgewendete» Mittel viel zu gering erscheinen. Was soll in Zukunft ge¬
schehen? Das ist eine weite Frage, bei der die verschiedensten Zweige des Staats¬
dienstes mit der Wissenschaft beratend werden zusammenwirken müssen. Aber ein
die ganze Weise der Abwehr bestimmender Gedanke ist mit einem einzigen Worte
gegeben, mit dem Worte: Seucheumobilmachung, Ist eine Volksseuche ein weniger
entschloßner Feind, als ein ländergieriger Nachbar? Oder sind die Verluste, die
von dem menschlichen Feinde drohen, so viel schwerer, daß gegen eine Seuche die
Mobilmachung einer einzelnen Stadt, eines Viertels einer Stadt als übermäßiger
Aufwand erschiene? Wenn man einig darüber ist, daß gegen eine allgemeine Ge¬
fahr Alle für Einen und Einer für Alle stehn müssen, so würde ein Widerspruch
darin liegen, den allgemeinen Widerstand nicht durch Organisation verzehnfachen
zu wollen. Eine bereit gehaltne Rolle würde etwa für jeden heranzuziehenden an¬
sässigen Bürger seinen Dienst im Fall des Ausrufs feststellen; ein Kennzeichen
würde ihn zum Staatsbeamte» machen, dem in seinem Dienst Gehorsam zu leisten
ist. Die gesundheitlich richtige Haltung der Wohnungen, die Essensbereituug, die
schleunige Ermittlung der Erkrankungen, die Feststellung der zukommenden Fremden
— sind einige von den Aufgaben, die nur auf diesem Wege völlig zu lösen sind
und denen die gewöhnliche Beamtenschaft selbst bei äußerster Anstrengung ihrer
Kräfte lange nicht gewachsen ist. Die Zuteilung einer wohl erläuterte» Dienst¬
anweisung an jeden Dienstpflichtigen, die Einberufung zu einer Übung — eine
Übnngsmobilmachung in der Zeit der Gefahr eines Seucheneinbruchs — und vieles
andre würde sich in der Entwicklung des Gedankens, der hier nur mit wenigen
Worten angeboten werden soll, von selber ergeben. Die Stärkung des Gemein¬
gefühls, die vom Staat ausgehende Erweckung der Einsicht, daß das Gemeinwesen
jeden Bürger jederzeit als Beamten heranziehen kann, die Entwindung dieser Wahr¬
heit aus den Händen der Sozinlistenpropheten durch den bestehenden Staat — das
sind Betrachtungen, zu denen der Gegenstand fernerhin anregt, die aber in die
Geschlossenheit dieses Vorschlages nicht mehr hinein gehören.
Wenn wir eine Choleramobilmachuug besessen hätten, so würden am An¬
steckungsherd in den schlimmsten Tagen nicht so viel Kräfte der Nation, wie gegen¬
wärtig in einem weiten Gebiete Wochen hindurch durch diesen Feind abgezogen,
und ungeheure wirtschaftliche Werte und viele Menschenleben würden erhalten
worden sein.
Der nervöse Gutsbesitzer. Als geplagter Städter mit „sitzender" Be¬
schäftigung hatte ich mich zur Auffrischung meiner Nerven auf einige Wochen in
ein wegen seiner Luft und seiner Wellen vielbesuchtes Seebad begeben. Die
Mehrzahl der Badegäste bestand, wie man bald bemerken konnte, aus Großstädtern;
unsre deutschen Steinkolosse Hamburg und Berlin schienen zu dem Zuzug stadt¬
müder Leute das meiste beigetragen zu haben. Am Mittagstisch — oder, wie
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