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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte

s
giebt Aufsätze in den Grenzboten, deren Wirkung auf die Leser
man monatelang, oft ein ganzes Jahr hindurch aus den ein¬
laufenden Zuschriften verfolgen kaun. Zu derartigen Abhand¬
lungen gehört der im vorigen Jahrgang in Ur. 23 erschienene
Aufsatz "Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte." Der Ver¬
fasser versuchte darin auf Grund eines französischen Werkes ein sehr heikles,
aber für unsre ganze Gesellschaft außerordentlich wichtiges Thema zu behandeln,
über das damals das preußische Abgeordnetenhaus als seiner unwürdig zur
Tagesordnung übergegangen war: die Prostitution. Über diesen Aufsatz
sind uns bis in die letzte Zeit herein so viele zustimmende und ablehnende,
klare und verworrene Meinungsäußerungen von Männern und Frauen zu¬
gesandt worden, daß wir mit aller Ruhe und allem Ernst noch einmal auf
diesen Gegenstand eingehen müssen. Wir thun das um so lieber, als alle
Zuschriften über die unverkennbare Bedeutuug der Frage für das körperliche,
geistige und sittliche Wohl unsrer Jugend einig sind und uns nenerdings in
der Person des bekannten schwedischen Arztes und Uuiversitätsprofessors
Seved Ribbing ein Gesinnungsgenosse und Mitstreiter erstanden ist, dessen
von Oskar Reyher übersetztes Buch: Die sexuelle Hygiene und ihre
ethischen Konsequenzen*) (Leipzig, Peter Hobbing, 18W) auch in Deutsch¬
land die weiteste Verbreitung verdiente.

Trotz aller Prüderie oder Leichtfertigkeit, trotz alles Pharisäertums und
einer falsch angebrachten sittlichen Entrüstung kommen wir um die Thatsache
uicht herum, daß der Niedergang der mächtigsten Kulturvölker vor allen
Dingen und zu allen Zeiten die Folge eines mißverstandnen, schlechtgeordneten,
vertommnen Geschlechtslebens gewesen ist. Weder die Grundsätze einer fein-
durchdachteu philosophischen Ethik noch die Vorschriften irgend einer religiösen
Sittenlehre sind wirkungsvoll und andauernd genug gewesen, den sinkenden
Völkern einen genügenden innern Halt zu bieten; und auch über unsre christ¬
liche Ethik scheint sich selbst unter zuversichtlichen und glaubensstarken Geistern
immer mehr die Ansicht zu verbreiten, daß ihre dogmatischen Satzungen, die



D. Red. Hoffentlich ist nicht das c,-mze Buch so "übersetzt,"
Grenzboten II 189177


Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte

s
giebt Aufsätze in den Grenzboten, deren Wirkung auf die Leser
man monatelang, oft ein ganzes Jahr hindurch aus den ein¬
laufenden Zuschriften verfolgen kaun. Zu derartigen Abhand¬
lungen gehört der im vorigen Jahrgang in Ur. 23 erschienene
Aufsatz „Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte." Der Ver¬
fasser versuchte darin auf Grund eines französischen Werkes ein sehr heikles,
aber für unsre ganze Gesellschaft außerordentlich wichtiges Thema zu behandeln,
über das damals das preußische Abgeordnetenhaus als seiner unwürdig zur
Tagesordnung übergegangen war: die Prostitution. Über diesen Aufsatz
sind uns bis in die letzte Zeit herein so viele zustimmende und ablehnende,
klare und verworrene Meinungsäußerungen von Männern und Frauen zu¬
gesandt worden, daß wir mit aller Ruhe und allem Ernst noch einmal auf
diesen Gegenstand eingehen müssen. Wir thun das um so lieber, als alle
Zuschriften über die unverkennbare Bedeutuug der Frage für das körperliche,
geistige und sittliche Wohl unsrer Jugend einig sind und uns nenerdings in
der Person des bekannten schwedischen Arztes und Uuiversitätsprofessors
Seved Ribbing ein Gesinnungsgenosse und Mitstreiter erstanden ist, dessen
von Oskar Reyher übersetztes Buch: Die sexuelle Hygiene und ihre
ethischen Konsequenzen*) (Leipzig, Peter Hobbing, 18W) auch in Deutsch¬
land die weiteste Verbreitung verdiente.

Trotz aller Prüderie oder Leichtfertigkeit, trotz alles Pharisäertums und
einer falsch angebrachten sittlichen Entrüstung kommen wir um die Thatsache
uicht herum, daß der Niedergang der mächtigsten Kulturvölker vor allen
Dingen und zu allen Zeiten die Folge eines mißverstandnen, schlechtgeordneten,
vertommnen Geschlechtslebens gewesen ist. Weder die Grundsätze einer fein-
durchdachteu philosophischen Ethik noch die Vorschriften irgend einer religiösen
Sittenlehre sind wirkungsvoll und andauernd genug gewesen, den sinkenden
Völkern einen genügenden innern Halt zu bieten; und auch über unsre christ¬
liche Ethik scheint sich selbst unter zuversichtlichen und glaubensstarken Geistern
immer mehr die Ansicht zu verbreiten, daß ihre dogmatischen Satzungen, die



D. Red. Hoffentlich ist nicht das c,-mze Buch so „übersetzt,"
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[0613] [Abbildung] Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte s giebt Aufsätze in den Grenzboten, deren Wirkung auf die Leser man monatelang, oft ein ganzes Jahr hindurch aus den ein¬ laufenden Zuschriften verfolgen kaun. Zu derartigen Abhand¬ lungen gehört der im vorigen Jahrgang in Ur. 23 erschienene Aufsatz „Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte." Der Ver¬ fasser versuchte darin auf Grund eines französischen Werkes ein sehr heikles, aber für unsre ganze Gesellschaft außerordentlich wichtiges Thema zu behandeln, über das damals das preußische Abgeordnetenhaus als seiner unwürdig zur Tagesordnung übergegangen war: die Prostitution. Über diesen Aufsatz sind uns bis in die letzte Zeit herein so viele zustimmende und ablehnende, klare und verworrene Meinungsäußerungen von Männern und Frauen zu¬ gesandt worden, daß wir mit aller Ruhe und allem Ernst noch einmal auf diesen Gegenstand eingehen müssen. Wir thun das um so lieber, als alle Zuschriften über die unverkennbare Bedeutuug der Frage für das körperliche, geistige und sittliche Wohl unsrer Jugend einig sind und uns nenerdings in der Person des bekannten schwedischen Arztes und Uuiversitätsprofessors Seved Ribbing ein Gesinnungsgenosse und Mitstreiter erstanden ist, dessen von Oskar Reyher übersetztes Buch: Die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen*) (Leipzig, Peter Hobbing, 18W) auch in Deutsch¬ land die weiteste Verbreitung verdiente. Trotz aller Prüderie oder Leichtfertigkeit, trotz alles Pharisäertums und einer falsch angebrachten sittlichen Entrüstung kommen wir um die Thatsache uicht herum, daß der Niedergang der mächtigsten Kulturvölker vor allen Dingen und zu allen Zeiten die Folge eines mißverstandnen, schlechtgeordneten, vertommnen Geschlechtslebens gewesen ist. Weder die Grundsätze einer fein- durchdachteu philosophischen Ethik noch die Vorschriften irgend einer religiösen Sittenlehre sind wirkungsvoll und andauernd genug gewesen, den sinkenden Völkern einen genügenden innern Halt zu bieten; und auch über unsre christ¬ liche Ethik scheint sich selbst unter zuversichtlichen und glaubensstarken Geistern immer mehr die Ansicht zu verbreiten, daß ihre dogmatischen Satzungen, die D. Red. Hoffentlich ist nicht das c,-mze Buch so „übersetzt," Grenzboten II 189177

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/613>, abgerufen am 04.07.2024.