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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

er Annahme, daß sich das Menschengeschlecht schon hier auf
Erden zu einem rein geistigen, unsinnlichen Dasein erheben solle,
steht zuvörderst die merkwürdige Thatsache im Wege, daß ganz
allgemein jede geistige Thätigkeit und jeder Fortschritt für un-
fruchtbar gehalten wird, wenn dabei nichts für das leibliche
Wohlbefinden herauskommt, und daß dieses durch nichts so sehr gefördert
wird, mis durch weite Verbreitung eiues hohen Grades sittlicher Gesinnung,
Alle Tugenden dienen unmittelbar oder mittelbar der leiblichen Wohlfahrt.
Den Angelpunkt des allgemein verständlichen Teiles der Sittenlehre des Evan¬
geliums bilden die leiblichen Werke der Barmherzigkeit (Matthäus 25, 35>):
die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken, die Nackten bekleiden, die Obdach¬
losen beherbergen, die Kranken nud Gefangenen besuchen und trösten. Eine
vollkommen moralische Gesellschaft, moralisch im christlichen Sinne, würde sehr
frei von leiblichen Plagen und Schmerzen sein und ein hohes Maß leiblichen
Wohlseins genießen; sie würde in leiblicher Beziehung nichts entbehren als
jene übertriebenen Lnstempsindnngen, die früher oder später Schmerzen zur
Folge haben.

Wie denkt mau sich überhaupt die Vergeistigung? Als Askese und Ver¬
zückung? Personen, die auf deu Genuß der geschlechtlichen Liebe verzichten,
ihre Nahrung auf das geringste Maß einschränken, das erforderlich ist, einen
uicht arbeitenden, daher seinen Stoff nur langsam wechselnden Körper gerade
noch am Lebe" zu erhalten, und die ihren Blick von der Welt der Sinne auf
das Göttliche richten, d. h. in den meisten Fällen entweder dem Spiel ihrer
Phantasiebilder zusehen oder ins Leere starren, solche Personen hat es schon
-- die indische Zeitrechnung ist sehr unzuverlässig -- vor drei- oder viertausend
Jahren gegeben. Es giebt ihrer auch heute uoch in Indien wie in katholischen
Klöstern unsrer Heimat, aber es scheint nicht, daß sie im Laufe der Zeit zahl¬
reicher würden; die von der Sinnenwelt abgekehrte Beschaulichkeit kommt von
jeher bei den Kulturvölkern vor, das eine hat mehr Neigung und Anlage
dazu als das andre, aber daß sich das Menschengeschlecht im ganzen dieser
Daseinsform als feinem Ziele zubewegte, davon ist nichts zu spüren; erheben


Grcuzl'von I 1891 M


Geschichtsphilosophische Gedanken

er Annahme, daß sich das Menschengeschlecht schon hier auf
Erden zu einem rein geistigen, unsinnlichen Dasein erheben solle,
steht zuvörderst die merkwürdige Thatsache im Wege, daß ganz
allgemein jede geistige Thätigkeit und jeder Fortschritt für un-
fruchtbar gehalten wird, wenn dabei nichts für das leibliche
Wohlbefinden herauskommt, und daß dieses durch nichts so sehr gefördert
wird, mis durch weite Verbreitung eiues hohen Grades sittlicher Gesinnung,
Alle Tugenden dienen unmittelbar oder mittelbar der leiblichen Wohlfahrt.
Den Angelpunkt des allgemein verständlichen Teiles der Sittenlehre des Evan¬
geliums bilden die leiblichen Werke der Barmherzigkeit (Matthäus 25, 35>):
die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken, die Nackten bekleiden, die Obdach¬
losen beherbergen, die Kranken nud Gefangenen besuchen und trösten. Eine
vollkommen moralische Gesellschaft, moralisch im christlichen Sinne, würde sehr
frei von leiblichen Plagen und Schmerzen sein und ein hohes Maß leiblichen
Wohlseins genießen; sie würde in leiblicher Beziehung nichts entbehren als
jene übertriebenen Lnstempsindnngen, die früher oder später Schmerzen zur
Folge haben.

Wie denkt mau sich überhaupt die Vergeistigung? Als Askese und Ver¬
zückung? Personen, die auf deu Genuß der geschlechtlichen Liebe verzichten,
ihre Nahrung auf das geringste Maß einschränken, das erforderlich ist, einen
uicht arbeitenden, daher seinen Stoff nur langsam wechselnden Körper gerade
noch am Lebe» zu erhalten, und die ihren Blick von der Welt der Sinne auf
das Göttliche richten, d. h. in den meisten Fällen entweder dem Spiel ihrer
Phantasiebilder zusehen oder ins Leere starren, solche Personen hat es schon
— die indische Zeitrechnung ist sehr unzuverlässig — vor drei- oder viertausend
Jahren gegeben. Es giebt ihrer auch heute uoch in Indien wie in katholischen
Klöstern unsrer Heimat, aber es scheint nicht, daß sie im Laufe der Zeit zahl¬
reicher würden; die von der Sinnenwelt abgekehrte Beschaulichkeit kommt von
jeher bei den Kulturvölkern vor, das eine hat mehr Neigung und Anlage
dazu als das andre, aber daß sich das Menschengeschlecht im ganzen dieser
Daseinsform als feinem Ziele zubewegte, davon ist nichts zu spüren; erheben


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[0545] [Abbildung] Geschichtsphilosophische Gedanken er Annahme, daß sich das Menschengeschlecht schon hier auf Erden zu einem rein geistigen, unsinnlichen Dasein erheben solle, steht zuvörderst die merkwürdige Thatsache im Wege, daß ganz allgemein jede geistige Thätigkeit und jeder Fortschritt für un- fruchtbar gehalten wird, wenn dabei nichts für das leibliche Wohlbefinden herauskommt, und daß dieses durch nichts so sehr gefördert wird, mis durch weite Verbreitung eiues hohen Grades sittlicher Gesinnung, Alle Tugenden dienen unmittelbar oder mittelbar der leiblichen Wohlfahrt. Den Angelpunkt des allgemein verständlichen Teiles der Sittenlehre des Evan¬ geliums bilden die leiblichen Werke der Barmherzigkeit (Matthäus 25, 35>): die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken, die Nackten bekleiden, die Obdach¬ losen beherbergen, die Kranken nud Gefangenen besuchen und trösten. Eine vollkommen moralische Gesellschaft, moralisch im christlichen Sinne, würde sehr frei von leiblichen Plagen und Schmerzen sein und ein hohes Maß leiblichen Wohlseins genießen; sie würde in leiblicher Beziehung nichts entbehren als jene übertriebenen Lnstempsindnngen, die früher oder später Schmerzen zur Folge haben. Wie denkt mau sich überhaupt die Vergeistigung? Als Askese und Ver¬ zückung? Personen, die auf deu Genuß der geschlechtlichen Liebe verzichten, ihre Nahrung auf das geringste Maß einschränken, das erforderlich ist, einen uicht arbeitenden, daher seinen Stoff nur langsam wechselnden Körper gerade noch am Lebe» zu erhalten, und die ihren Blick von der Welt der Sinne auf das Göttliche richten, d. h. in den meisten Fällen entweder dem Spiel ihrer Phantasiebilder zusehen oder ins Leere starren, solche Personen hat es schon — die indische Zeitrechnung ist sehr unzuverlässig — vor drei- oder viertausend Jahren gegeben. Es giebt ihrer auch heute uoch in Indien wie in katholischen Klöstern unsrer Heimat, aber es scheint nicht, daß sie im Laufe der Zeit zahl¬ reicher würden; die von der Sinnenwelt abgekehrte Beschaulichkeit kommt von jeher bei den Kulturvölkern vor, das eine hat mehr Neigung und Anlage dazu als das andre, aber daß sich das Menschengeschlecht im ganzen dieser Daseinsform als feinem Ziele zubewegte, davon ist nichts zu spüren; erheben Grcuzl'von I 1891 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/545>, abgerufen am 22.07.2024.