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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

'rfen wir Nun einen Blick auf den Zusanlmeuhaug der Glück¬
seligkeit mit der Vollkommenheit. Aus zwei Gründen sage ich
nicht Sittlichkeit, sondern Vollkommenheit. Erstens weil die drei
gleichbedeutenden Ausdrücke Sittlichkeit, Moralität und Ethos
uur das Äußerliche bezeichnen und die heidnische Vorstellung
erwecken, daß ein Mensch schon mit sich zufrieden sein dürfe, wenn er den
Sitten seines Volkes und seiner Zeit gemäß lebt. Das Christentum hat die
auf die Gesinnung hinweisende Bezeichnung Heiligkeit eingeführt nud schätzt
die Sittsamkeit nur als eine der Äußerungen dieser erhabenen Gesinnung.
Zweitens, weil wir beim Menschen außer der Sittlichkeit oder Heiligkeit oder
gvttwohlgefälligeu Gesinnung anch Ausbildung des Erkenntuisvermögeus und
Geschmacks verlangen, umso mehr, als bei tierischer Unwissenheit und Roheit
gnr keine Sittlichkeit möglich ist. Wenn wir in diesem Zusammenhange von
Vollkommenheit sprechen, so meinen wir damit natürlich nicht die Vereinigung
eines erhabenen Charakters mit alles umfassender Gelehrsamkeit, höchster Weis¬
heit und vollendetem Kunstgeschmack. Sondern wir meinen die jeder Alters¬
stufe, jedem Stande, der jeweiligen Zeit und Lebenslage angemessene Voll¬
kommenheit. Ein dreijähriges Kind, das an keiner besondern Schwäche oder
Unart leidet, ist ein in seiner Art vollkommenes Wesen; ein weit über sein
Alter hinausgehendes Wissen erwarten wir nicht von ihm, es würde uns das
eher unheimlich als erfreulich anmuten. So macht es einen fremdartigen,
unter Umständen widerlichen oder lächerlichen Eindruck, wenn ein Mann
niedern Standes wie ein Buch über die hohe Politik spricht, oder einen ge¬
wählten Geschmack bekundet, oder sich in den Formen höfischer Etikette bewegt.
Auch Hegel erkennt an: "Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten
Lebens, eines Hirten, eines Baktern hat unendlichen Wert, lind denselben Wert
als die Religiosität lind Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntnis und eines
an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins." Freilich setzt
er hinzu: "Das Recht des Weltgeistes geht über alle Berechtigungen" d. h. so
vollkommen ein solches Wesen an sich sein mag, es muß es sich gefallen lassen,
Vom Weltgeiste als Mittel für höhere Zwecke verwendet zu werden.




Geschichtsphilosophische Gedanken

'rfen wir Nun einen Blick auf den Zusanlmeuhaug der Glück¬
seligkeit mit der Vollkommenheit. Aus zwei Gründen sage ich
nicht Sittlichkeit, sondern Vollkommenheit. Erstens weil die drei
gleichbedeutenden Ausdrücke Sittlichkeit, Moralität und Ethos
uur das Äußerliche bezeichnen und die heidnische Vorstellung
erwecken, daß ein Mensch schon mit sich zufrieden sein dürfe, wenn er den
Sitten seines Volkes und seiner Zeit gemäß lebt. Das Christentum hat die
auf die Gesinnung hinweisende Bezeichnung Heiligkeit eingeführt nud schätzt
die Sittsamkeit nur als eine der Äußerungen dieser erhabenen Gesinnung.
Zweitens, weil wir beim Menschen außer der Sittlichkeit oder Heiligkeit oder
gvttwohlgefälligeu Gesinnung anch Ausbildung des Erkenntuisvermögeus und
Geschmacks verlangen, umso mehr, als bei tierischer Unwissenheit und Roheit
gnr keine Sittlichkeit möglich ist. Wenn wir in diesem Zusammenhange von
Vollkommenheit sprechen, so meinen wir damit natürlich nicht die Vereinigung
eines erhabenen Charakters mit alles umfassender Gelehrsamkeit, höchster Weis¬
heit und vollendetem Kunstgeschmack. Sondern wir meinen die jeder Alters¬
stufe, jedem Stande, der jeweiligen Zeit und Lebenslage angemessene Voll¬
kommenheit. Ein dreijähriges Kind, das an keiner besondern Schwäche oder
Unart leidet, ist ein in seiner Art vollkommenes Wesen; ein weit über sein
Alter hinausgehendes Wissen erwarten wir nicht von ihm, es würde uns das
eher unheimlich als erfreulich anmuten. So macht es einen fremdartigen,
unter Umständen widerlichen oder lächerlichen Eindruck, wenn ein Mann
niedern Standes wie ein Buch über die hohe Politik spricht, oder einen ge¬
wählten Geschmack bekundet, oder sich in den Formen höfischer Etikette bewegt.
Auch Hegel erkennt an: „Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten
Lebens, eines Hirten, eines Baktern hat unendlichen Wert, lind denselben Wert
als die Religiosität lind Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntnis und eines
an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins." Freilich setzt
er hinzu: „Das Recht des Weltgeistes geht über alle Berechtigungen" d. h. so
vollkommen ein solches Wesen an sich sein mag, es muß es sich gefallen lassen,
Vom Weltgeiste als Mittel für höhere Zwecke verwendet zu werden.


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[0502] [Abbildung] Geschichtsphilosophische Gedanken 'rfen wir Nun einen Blick auf den Zusanlmeuhaug der Glück¬ seligkeit mit der Vollkommenheit. Aus zwei Gründen sage ich nicht Sittlichkeit, sondern Vollkommenheit. Erstens weil die drei gleichbedeutenden Ausdrücke Sittlichkeit, Moralität und Ethos uur das Äußerliche bezeichnen und die heidnische Vorstellung erwecken, daß ein Mensch schon mit sich zufrieden sein dürfe, wenn er den Sitten seines Volkes und seiner Zeit gemäß lebt. Das Christentum hat die auf die Gesinnung hinweisende Bezeichnung Heiligkeit eingeführt nud schätzt die Sittsamkeit nur als eine der Äußerungen dieser erhabenen Gesinnung. Zweitens, weil wir beim Menschen außer der Sittlichkeit oder Heiligkeit oder gvttwohlgefälligeu Gesinnung anch Ausbildung des Erkenntuisvermögeus und Geschmacks verlangen, umso mehr, als bei tierischer Unwissenheit und Roheit gnr keine Sittlichkeit möglich ist. Wenn wir in diesem Zusammenhange von Vollkommenheit sprechen, so meinen wir damit natürlich nicht die Vereinigung eines erhabenen Charakters mit alles umfassender Gelehrsamkeit, höchster Weis¬ heit und vollendetem Kunstgeschmack. Sondern wir meinen die jeder Alters¬ stufe, jedem Stande, der jeweiligen Zeit und Lebenslage angemessene Voll¬ kommenheit. Ein dreijähriges Kind, das an keiner besondern Schwäche oder Unart leidet, ist ein in seiner Art vollkommenes Wesen; ein weit über sein Alter hinausgehendes Wissen erwarten wir nicht von ihm, es würde uns das eher unheimlich als erfreulich anmuten. So macht es einen fremdartigen, unter Umständen widerlichen oder lächerlichen Eindruck, wenn ein Mann niedern Standes wie ein Buch über die hohe Politik spricht, oder einen ge¬ wählten Geschmack bekundet, oder sich in den Formen höfischer Etikette bewegt. Auch Hegel erkennt an: „Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens, eines Hirten, eines Baktern hat unendlichen Wert, lind denselben Wert als die Religiosität lind Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntnis und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins." Freilich setzt er hinzu: „Das Recht des Weltgeistes geht über alle Berechtigungen" d. h. so vollkommen ein solches Wesen an sich sein mag, es muß es sich gefallen lassen, Vom Weltgeiste als Mittel für höhere Zwecke verwendet zu werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/502>, abgerufen am 03.07.2024.