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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

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haben auch ihr Leben zugebracht, indem sie die Menschen gewaltsam unter¬
drückten, aber das geschah mit Rücksicht auf ein Lebenswerk und auf ein natio¬
nales Interesse. Was sie das öffentliche Wohl nannten, war kein Trugbild
ihres Gehirns, kein launenhaftes Gespinst ihrer Einbildungskraft, ihrer per¬
sönlichen Leidenschaften, ihres Ehrgeizes, ihres Hochmutes. Außerhalb ihrer
Träume gab es für sie ein wirkliches Ding von höherer Bedeutung, d. h. den
Staat, den Gesellschaftskörper, den mächtigen Organismus, der durch die fort¬
laufende Reihe festbegründeter Geschlechter weiter dauert. Unter dem bestän¬
digen Einfluß der Staatsraison hatten dreißig Herrscher gearbeitet, und so
hatten sie Provinz an Provinz gefügt und durch Mittel, die dem Einzelne"
untersagt, aber den Staatsmännern erlaubt find, Frankreich fest und dauernd
aufgebaut. Bei ihrem unvermuteten Nachfolger fehlt dieser Grundsatz; auf
dem Throne wie auf dem Schlachtfelde bleibt er als General, Konsul oder
Kaiser nichts weiter als ollieikr 6s tortunk, der nur an sein Avancement
denkt. Infolge einer ungeheuern Lücke in seiner Bildung, seinem Gewissen,
seinem Herzen ordnet er den Staat seiner Person unter, statt seine Person
dem Staate unterzuordnen. Er opfert die Zukunft der Gegenwart, und daher
konnte fein Reich keinen Bestand haben.

Zwischen 1804 und 1815 hat Napoleon mehr als 1700000 Franzosen hinge¬
schlachtet, die innerhalb der alten Grenzen geboren waren, und ungefähr zwei
Millionen Menschen, die für ihn als Verbündete oder durch ihn als Feinde
getötet wurden. Was die armen, begeisterten und leichtgläubigen Gallier
dadurch gewannen, daß sie ihm zweimal ihr Staatswesen anvertrauten, ist
eine doppelte Invasion. Was er ihnen als Erbteil hinterließ, als Lohn für
ihre Aufopferung nach diesem unerhörten Blutvergießen, war ein um fünf¬
zehn Departements verkleinertes Frankreich; eingezwängt in die Grenzen von
1789, blieb es zwischen seinen mächtiger gewordenen Nachbarn ein Gegen¬
stand des Argwohns, blieb es eingeschlossen von einem drohenden Kreise voll
Haß und Mißtrauen. Das ist, so schließt Taine seine Charakteristik, das
politische Werk Napoleons, das Werk eines vom Genie bedienten Egoismus:
in sein europäisches wie in sein französisches Bauwerk hat der unumschränkte
Egoismus einen Konstruktionsfehler hineingebracht. Dieser Grundfehler zeigt
sich an dem europäischen Gebäude von dem ersten Tage um ganz unzweideutig,
und er bewirkt dort nach fünfzehn Jahren den schnellen Zusammensturz. In
dem französischen Gebäude ist er zwar weniger ersichtlich, aber ebenso schwer¬
wiegend; man wird ihn erst nach Verlauf eines halben Jahrhunderts oder
eines ganzen beseitigen, aber seine allmählichen und langsamen Wirkungen
werden ebenso verderblich sein und sind nicht weniger gewiß.

Es ist kein Wunder, daß diese Darstellung Taines die Entrüstung aller
Bonapartisten im höchsten Grade hervorgerufen hat; wenn man ihn aber der


ß

Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung

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haben auch ihr Leben zugebracht, indem sie die Menschen gewaltsam unter¬
drückten, aber das geschah mit Rücksicht auf ein Lebenswerk und auf ein natio¬
nales Interesse. Was sie das öffentliche Wohl nannten, war kein Trugbild
ihres Gehirns, kein launenhaftes Gespinst ihrer Einbildungskraft, ihrer per¬
sönlichen Leidenschaften, ihres Ehrgeizes, ihres Hochmutes. Außerhalb ihrer
Träume gab es für sie ein wirkliches Ding von höherer Bedeutung, d. h. den
Staat, den Gesellschaftskörper, den mächtigen Organismus, der durch die fort¬
laufende Reihe festbegründeter Geschlechter weiter dauert. Unter dem bestän¬
digen Einfluß der Staatsraison hatten dreißig Herrscher gearbeitet, und so
hatten sie Provinz an Provinz gefügt und durch Mittel, die dem Einzelne»
untersagt, aber den Staatsmännern erlaubt find, Frankreich fest und dauernd
aufgebaut. Bei ihrem unvermuteten Nachfolger fehlt dieser Grundsatz; auf
dem Throne wie auf dem Schlachtfelde bleibt er als General, Konsul oder
Kaiser nichts weiter als ollieikr 6s tortunk, der nur an sein Avancement
denkt. Infolge einer ungeheuern Lücke in seiner Bildung, seinem Gewissen,
seinem Herzen ordnet er den Staat seiner Person unter, statt seine Person
dem Staate unterzuordnen. Er opfert die Zukunft der Gegenwart, und daher
konnte fein Reich keinen Bestand haben.

Zwischen 1804 und 1815 hat Napoleon mehr als 1700000 Franzosen hinge¬
schlachtet, die innerhalb der alten Grenzen geboren waren, und ungefähr zwei
Millionen Menschen, die für ihn als Verbündete oder durch ihn als Feinde
getötet wurden. Was die armen, begeisterten und leichtgläubigen Gallier
dadurch gewannen, daß sie ihm zweimal ihr Staatswesen anvertrauten, ist
eine doppelte Invasion. Was er ihnen als Erbteil hinterließ, als Lohn für
ihre Aufopferung nach diesem unerhörten Blutvergießen, war ein um fünf¬
zehn Departements verkleinertes Frankreich; eingezwängt in die Grenzen von
1789, blieb es zwischen seinen mächtiger gewordenen Nachbarn ein Gegen¬
stand des Argwohns, blieb es eingeschlossen von einem drohenden Kreise voll
Haß und Mißtrauen. Das ist, so schließt Taine seine Charakteristik, das
politische Werk Napoleons, das Werk eines vom Genie bedienten Egoismus:
in sein europäisches wie in sein französisches Bauwerk hat der unumschränkte
Egoismus einen Konstruktionsfehler hineingebracht. Dieser Grundfehler zeigt
sich an dem europäischen Gebäude von dem ersten Tage um ganz unzweideutig,
und er bewirkt dort nach fünfzehn Jahren den schnellen Zusammensturz. In
dem französischen Gebäude ist er zwar weniger ersichtlich, aber ebenso schwer¬
wiegend; man wird ihn erst nach Verlauf eines halben Jahrhunderts oder
eines ganzen beseitigen, aber seine allmählichen und langsamen Wirkungen
werden ebenso verderblich sein und sind nicht weniger gewiß.

Es ist kein Wunder, daß diese Darstellung Taines die Entrüstung aller
Bonapartisten im höchsten Grade hervorgerufen hat; wenn man ihn aber der


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[0322] Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung n'g,iZ<z<zxtö Iss ooirckiticms as xersonno. Andre Staatshäupter, sagt Taine, haben auch ihr Leben zugebracht, indem sie die Menschen gewaltsam unter¬ drückten, aber das geschah mit Rücksicht auf ein Lebenswerk und auf ein natio¬ nales Interesse. Was sie das öffentliche Wohl nannten, war kein Trugbild ihres Gehirns, kein launenhaftes Gespinst ihrer Einbildungskraft, ihrer per¬ sönlichen Leidenschaften, ihres Ehrgeizes, ihres Hochmutes. Außerhalb ihrer Träume gab es für sie ein wirkliches Ding von höherer Bedeutung, d. h. den Staat, den Gesellschaftskörper, den mächtigen Organismus, der durch die fort¬ laufende Reihe festbegründeter Geschlechter weiter dauert. Unter dem bestän¬ digen Einfluß der Staatsraison hatten dreißig Herrscher gearbeitet, und so hatten sie Provinz an Provinz gefügt und durch Mittel, die dem Einzelne» untersagt, aber den Staatsmännern erlaubt find, Frankreich fest und dauernd aufgebaut. Bei ihrem unvermuteten Nachfolger fehlt dieser Grundsatz; auf dem Throne wie auf dem Schlachtfelde bleibt er als General, Konsul oder Kaiser nichts weiter als ollieikr 6s tortunk, der nur an sein Avancement denkt. Infolge einer ungeheuern Lücke in seiner Bildung, seinem Gewissen, seinem Herzen ordnet er den Staat seiner Person unter, statt seine Person dem Staate unterzuordnen. Er opfert die Zukunft der Gegenwart, und daher konnte fein Reich keinen Bestand haben. Zwischen 1804 und 1815 hat Napoleon mehr als 1700000 Franzosen hinge¬ schlachtet, die innerhalb der alten Grenzen geboren waren, und ungefähr zwei Millionen Menschen, die für ihn als Verbündete oder durch ihn als Feinde getötet wurden. Was die armen, begeisterten und leichtgläubigen Gallier dadurch gewannen, daß sie ihm zweimal ihr Staatswesen anvertrauten, ist eine doppelte Invasion. Was er ihnen als Erbteil hinterließ, als Lohn für ihre Aufopferung nach diesem unerhörten Blutvergießen, war ein um fünf¬ zehn Departements verkleinertes Frankreich; eingezwängt in die Grenzen von 1789, blieb es zwischen seinen mächtiger gewordenen Nachbarn ein Gegen¬ stand des Argwohns, blieb es eingeschlossen von einem drohenden Kreise voll Haß und Mißtrauen. Das ist, so schließt Taine seine Charakteristik, das politische Werk Napoleons, das Werk eines vom Genie bedienten Egoismus: in sein europäisches wie in sein französisches Bauwerk hat der unumschränkte Egoismus einen Konstruktionsfehler hineingebracht. Dieser Grundfehler zeigt sich an dem europäischen Gebäude von dem ersten Tage um ganz unzweideutig, und er bewirkt dort nach fünfzehn Jahren den schnellen Zusammensturz. In dem französischen Gebäude ist er zwar weniger ersichtlich, aber ebenso schwer¬ wiegend; man wird ihn erst nach Verlauf eines halben Jahrhunderts oder eines ganzen beseitigen, aber seine allmählichen und langsamen Wirkungen werden ebenso verderblich sein und sind nicht weniger gewiß. Es ist kein Wunder, daß diese Darstellung Taines die Entrüstung aller Bonapartisten im höchsten Grade hervorgerufen hat; wenn man ihn aber der ß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/322>, abgerufen am 22.07.2024.