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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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^treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von Lrnst Groth
7. Jean Richepin

w verneinenden Geister Pflegen nicht mir im politischen Leben
über das kühnste Selbstvertrauen und die kräftigsten Stimmen
zu verfügen, auch in der Kunst und in der Litteratur sind sie
zu allen Zeiten türmend und rücksichtslos aufgetreten, haben auf
die schöpferische Kraft der Zeitgenossen oft eine geradezu lähmende
Wirkung ausgeübt und den gesunden Charakter ganzer Perioden wiederholt
verdorben und gefälscht.

Auch die französische Litteratur der Gegenwart hat unter diesem Einflüsse
der alles zersetzenden Geister zu leiden. Manches Tüchtige und Gediegene,
das unter andern Verhältnissen gepriesen werden würde, verschwindet hinter
der Staubwolke eines litterarischen Wandalismus, der auf den festen Besitz¬
stand überkommener Ideale, ästhetischer Grundregel" und sittlicher Anschauungen
immer vou neuem seine übermütigen und unsinnigen Angriffe ausführt und
durch sein lautes Treiben, besonders bei den urteilslosen Köpfen in Deutsch¬
land, den Glauben erweckt, daß der ganzen französischen Litteratur der Gegen¬
wart der gesunde Atem ausgegangen sei, und daß man in deu dichterischen
Erzeugnissen der letzten zehn Jahre weiter nichts zu sehen habe, als eine
pIl08pdoriZ8lZönvv as 1a xonrriturs. Und doch giebt es neben dieser lauten
naturalistischen, symbolistischen und impressionistischen Baggerarbeit auch manches
Echte in Frankreich, das aus deu unversieglichen Quellen wahrer Poesie zu
Tage kommt und unser Jahrhundert sicher überdauern wird.

Freilich, wer über die Machwerke der Pornographen und über das so¬
genannte Sittendramn mit seinen litterarischen Neigungen nicht hinauskommt,
wie das fast bei allen unsern großen und kleinem Feuilletonisten der Fall ist,
in dessen Kopf muß allerdings mit der Zeit ein wunderliches Bild von dem
geistigen Leben in Frankreich entstehen. Ist es nicht eine seltsame Erscheinung,
daß unter der endlosen Reihe unsrer Zeitschriften die Grenzboten die einzige
geblieben sind, die auf das litterarische Schaffen eines so hervorragenden




^treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von Lrnst Groth
7. Jean Richepin

w verneinenden Geister Pflegen nicht mir im politischen Leben
über das kühnste Selbstvertrauen und die kräftigsten Stimmen
zu verfügen, auch in der Kunst und in der Litteratur sind sie
zu allen Zeiten türmend und rücksichtslos aufgetreten, haben auf
die schöpferische Kraft der Zeitgenossen oft eine geradezu lähmende
Wirkung ausgeübt und den gesunden Charakter ganzer Perioden wiederholt
verdorben und gefälscht.

Auch die französische Litteratur der Gegenwart hat unter diesem Einflüsse
der alles zersetzenden Geister zu leiden. Manches Tüchtige und Gediegene,
das unter andern Verhältnissen gepriesen werden würde, verschwindet hinter
der Staubwolke eines litterarischen Wandalismus, der auf den festen Besitz¬
stand überkommener Ideale, ästhetischer Grundregel» und sittlicher Anschauungen
immer vou neuem seine übermütigen und unsinnigen Angriffe ausführt und
durch sein lautes Treiben, besonders bei den urteilslosen Köpfen in Deutsch¬
land, den Glauben erweckt, daß der ganzen französischen Litteratur der Gegen¬
wart der gesunde Atem ausgegangen sei, und daß man in deu dichterischen
Erzeugnissen der letzten zehn Jahre weiter nichts zu sehen habe, als eine
pIl08pdoriZ8lZönvv as 1a xonrriturs. Und doch giebt es neben dieser lauten
naturalistischen, symbolistischen und impressionistischen Baggerarbeit auch manches
Echte in Frankreich, das aus deu unversieglichen Quellen wahrer Poesie zu
Tage kommt und unser Jahrhundert sicher überdauern wird.

Freilich, wer über die Machwerke der Pornographen und über das so¬
genannte Sittendramn mit seinen litterarischen Neigungen nicht hinauskommt,
wie das fast bei allen unsern großen und kleinem Feuilletonisten der Fall ist,
in dessen Kopf muß allerdings mit der Zeit ein wunderliches Bild von dem
geistigen Leben in Frankreich entstehen. Ist es nicht eine seltsame Erscheinung,
daß unter der endlosen Reihe unsrer Zeitschriften die Grenzboten die einzige
geblieben sind, die auf das litterarische Schaffen eines so hervorragenden


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[0276] [Abbildung] ^treifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart von Lrnst Groth 7. Jean Richepin w verneinenden Geister Pflegen nicht mir im politischen Leben über das kühnste Selbstvertrauen und die kräftigsten Stimmen zu verfügen, auch in der Kunst und in der Litteratur sind sie zu allen Zeiten türmend und rücksichtslos aufgetreten, haben auf die schöpferische Kraft der Zeitgenossen oft eine geradezu lähmende Wirkung ausgeübt und den gesunden Charakter ganzer Perioden wiederholt verdorben und gefälscht. Auch die französische Litteratur der Gegenwart hat unter diesem Einflüsse der alles zersetzenden Geister zu leiden. Manches Tüchtige und Gediegene, das unter andern Verhältnissen gepriesen werden würde, verschwindet hinter der Staubwolke eines litterarischen Wandalismus, der auf den festen Besitz¬ stand überkommener Ideale, ästhetischer Grundregel» und sittlicher Anschauungen immer vou neuem seine übermütigen und unsinnigen Angriffe ausführt und durch sein lautes Treiben, besonders bei den urteilslosen Köpfen in Deutsch¬ land, den Glauben erweckt, daß der ganzen französischen Litteratur der Gegen¬ wart der gesunde Atem ausgegangen sei, und daß man in deu dichterischen Erzeugnissen der letzten zehn Jahre weiter nichts zu sehen habe, als eine pIl08pdoriZ8lZönvv as 1a xonrriturs. Und doch giebt es neben dieser lauten naturalistischen, symbolistischen und impressionistischen Baggerarbeit auch manches Echte in Frankreich, das aus deu unversieglichen Quellen wahrer Poesie zu Tage kommt und unser Jahrhundert sicher überdauern wird. Freilich, wer über die Machwerke der Pornographen und über das so¬ genannte Sittendramn mit seinen litterarischen Neigungen nicht hinauskommt, wie das fast bei allen unsern großen und kleinem Feuilletonisten der Fall ist, in dessen Kopf muß allerdings mit der Zeit ein wunderliches Bild von dem geistigen Leben in Frankreich entstehen. Ist es nicht eine seltsame Erscheinung, daß unter der endlosen Reihe unsrer Zeitschriften die Grenzboten die einzige geblieben sind, die auf das litterarische Schaffen eines so hervorragenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/276>, abgerufen am 22.07.2024.