Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches befriedigt fühlte, je mehr ihm die Hoffnung schwand noch einen seiner größern Volksgesang. Ein Blatt der Reichshauptstadt, dessen Richtung uns im Maßgebliches und Unmaßgebliches befriedigt fühlte, je mehr ihm die Hoffnung schwand noch einen seiner größern Volksgesang. Ein Blatt der Reichshauptstadt, dessen Richtung uns im <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208633"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_141" prev="#ID_140"> befriedigt fühlte, je mehr ihm die Hoffnung schwand noch einen seiner größern<lb/> Pläne auszuführen, und es dürfte nicht schlechthin „selbstquälerische Grübelei" ge¬<lb/> nannt werden, wenn Gosche dieser Empfindung Raum gab. Nicht ohne tiefe<lb/> schmerzliche Bewegung vergegenwärtigt sich daher jeder, der die herzgewinnende<lb/> Persönlichkeit des Mannes gekannt hat, die lichten Anfänge und das dunkle Ende<lb/> seines Lebens.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Volksgesang.</head> <p xml:id="ID_142" next="#ID_143"> Ein Blatt der Reichshauptstadt, dessen Richtung uns im<lb/> ganzen unsympathisch ist, dessen Leiter aber einen lebhaften Verkehr mit ihrem<lb/> Leserkreise zu unterhalten wissen, aus dem ihnen neben manchem Thörichten auch<lb/> manchmal etwas Verständiges zugeht, brachte jüngst gnr nicht üble Betrachtungen<lb/> über das Schwinden des Volksgesanges. Der Einsender, wahrscheinlich ein Sachse,<lb/> hatte die Wahrnehmung gemacht, daß die Polnischen Feldarbeiterinnen mit Gesang<lb/> aufs Feld ziehen und mit Gesang abends heimkehren, auch Wohl bei der Arbeit<lb/> singen, und er fragt: Warum machen es unsre deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen<lb/> nicht ebenso? Er glaubt, die ausschließliche Pflege des mehrstimmigen Kunstgesanges<lb/> in Schulen und Gesangvereinen sei schuld am Aussterben des Volksgesanges. Das<lb/> mag wirklich ein Grund sein, aber es giebt uoch einen zweiten, den der Mann<lb/> übersieht. Zum Volksgesänge gehört nicht bloß Gesang, sondern auch Volk, und<lb/> daran festes. Wo giebt es denn bei uns noch Volk in dem Sinne, den der Volks¬<lb/> gesang fordert? Wo giebt es noch Menschen, die sich in sorgloser Heiterkeit auf¬<lb/> gelegt fühlten, zu singen und zu springen, oder die ihren Liebesschmerz oder das<lb/> Mitleid mit einem unglücklich liebenden oder gar eine fromme Empfindung in<lb/> Liedern ausströmen möchten? Solche Menschen haben wir nur noch in einzelnen<lb/> Exemplaren. Was bei uns über vierzehn Jahre alt ist, das sind einschließlich der<lb/> Tagelöhner sämtlich junge und ältere Herren, junge und ältere Damen. Herren<lb/> und Damen aber, das ist ja das erste Erfordernis der Gesellschaftsfähigkeit, folgen<lb/> niemals ihrer Empfindung, sondern thun und sprechen in jedem Augenblick nur<lb/> das, was die Pflicht oder der gute Ton oder die Mode fordert. Ihre Em¬<lb/> pfindungen strömen sie — diesmal meine ich die Herren allein — nur aus, wenn<lb/> sie betrunken oder durch irgend einen Ruban ermutigt worden sind, sichs kannibalisch<lb/> Wohl sein zu lassen. Öffentlich singen darf ein Herr nur, wenn er Mitglied eines<lb/> Gesangvereins oder Konzertsänger ist oder an einem Kommers teilnimmt; im ersten<lb/> und zweiten Falle mit weißen Handschuhen, im dritten, wo allerdings schon die<lb/> erwähnte Bedingung einer wirklichen Gefühlsäußerung nahe liegt, ohne solche. Volks¬<lb/> lieder darf ja unter Umständen auch ein Herr, eine Dame singen, aber um Gottes-<lb/> willen nicht als schlichten, ungekünstelten Ausdruck einer einfachen, natürlichen Em¬<lb/> pfindung, sondern als künstlerische Nachahmung solchen Ausdrucks. Die Dame, die<lb/> auf dem Podium des Konzertsaales ein Wiegenlied oder „Bäuerlein, Bäuerlein,<lb/> tick tick tack" vorträgt, zeigt schon durch ihre Toilette, wie hoch erhaben sie über<lb/> den Verdacht ist, als konnte sie jemals selbst Kinder wiegen oder sich um Spatzen<lb/> und dreschende Bauern kümmern. Außerdem fühlen sich alle diese Herren und<lb/> Damen dermaßen von der schweren Not der Zeit bedrückt und sind so sehr an die<lb/> verstandesmäßige Zergliederung aller Empfindungen gewöhnt, daß ihnen die Lust<lb/> zum Singen vergeht. Die Liebe, das Hauptthema des Volksliedes, ist schou längst<lb/> kein Gegenstand der Poesie mehr — die heutige Versemacherei gehört mehr in die<lb/> Industrie als in die Poesie —, da sie bei jener wirtschaftlichen Angelegenheit, die<lb/> man Eheschließung nennt, nur noch sehr wenig zu sagen hat. Man muß als<lb/> bodenlos leichtsinniger unverbesserlicher Taugenichts mit der Gesellschaft gebrochen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
befriedigt fühlte, je mehr ihm die Hoffnung schwand noch einen seiner größern
Pläne auszuführen, und es dürfte nicht schlechthin „selbstquälerische Grübelei" ge¬
nannt werden, wenn Gosche dieser Empfindung Raum gab. Nicht ohne tiefe
schmerzliche Bewegung vergegenwärtigt sich daher jeder, der die herzgewinnende
Persönlichkeit des Mannes gekannt hat, die lichten Anfänge und das dunkle Ende
seines Lebens.
Volksgesang. Ein Blatt der Reichshauptstadt, dessen Richtung uns im
ganzen unsympathisch ist, dessen Leiter aber einen lebhaften Verkehr mit ihrem
Leserkreise zu unterhalten wissen, aus dem ihnen neben manchem Thörichten auch
manchmal etwas Verständiges zugeht, brachte jüngst gnr nicht üble Betrachtungen
über das Schwinden des Volksgesanges. Der Einsender, wahrscheinlich ein Sachse,
hatte die Wahrnehmung gemacht, daß die Polnischen Feldarbeiterinnen mit Gesang
aufs Feld ziehen und mit Gesang abends heimkehren, auch Wohl bei der Arbeit
singen, und er fragt: Warum machen es unsre deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen
nicht ebenso? Er glaubt, die ausschließliche Pflege des mehrstimmigen Kunstgesanges
in Schulen und Gesangvereinen sei schuld am Aussterben des Volksgesanges. Das
mag wirklich ein Grund sein, aber es giebt uoch einen zweiten, den der Mann
übersieht. Zum Volksgesänge gehört nicht bloß Gesang, sondern auch Volk, und
daran festes. Wo giebt es denn bei uns noch Volk in dem Sinne, den der Volks¬
gesang fordert? Wo giebt es noch Menschen, die sich in sorgloser Heiterkeit auf¬
gelegt fühlten, zu singen und zu springen, oder die ihren Liebesschmerz oder das
Mitleid mit einem unglücklich liebenden oder gar eine fromme Empfindung in
Liedern ausströmen möchten? Solche Menschen haben wir nur noch in einzelnen
Exemplaren. Was bei uns über vierzehn Jahre alt ist, das sind einschließlich der
Tagelöhner sämtlich junge und ältere Herren, junge und ältere Damen. Herren
und Damen aber, das ist ja das erste Erfordernis der Gesellschaftsfähigkeit, folgen
niemals ihrer Empfindung, sondern thun und sprechen in jedem Augenblick nur
das, was die Pflicht oder der gute Ton oder die Mode fordert. Ihre Em¬
pfindungen strömen sie — diesmal meine ich die Herren allein — nur aus, wenn
sie betrunken oder durch irgend einen Ruban ermutigt worden sind, sichs kannibalisch
Wohl sein zu lassen. Öffentlich singen darf ein Herr nur, wenn er Mitglied eines
Gesangvereins oder Konzertsänger ist oder an einem Kommers teilnimmt; im ersten
und zweiten Falle mit weißen Handschuhen, im dritten, wo allerdings schon die
erwähnte Bedingung einer wirklichen Gefühlsäußerung nahe liegt, ohne solche. Volks¬
lieder darf ja unter Umständen auch ein Herr, eine Dame singen, aber um Gottes-
willen nicht als schlichten, ungekünstelten Ausdruck einer einfachen, natürlichen Em¬
pfindung, sondern als künstlerische Nachahmung solchen Ausdrucks. Die Dame, die
auf dem Podium des Konzertsaales ein Wiegenlied oder „Bäuerlein, Bäuerlein,
tick tick tack" vorträgt, zeigt schon durch ihre Toilette, wie hoch erhaben sie über
den Verdacht ist, als konnte sie jemals selbst Kinder wiegen oder sich um Spatzen
und dreschende Bauern kümmern. Außerdem fühlen sich alle diese Herren und
Damen dermaßen von der schweren Not der Zeit bedrückt und sind so sehr an die
verstandesmäßige Zergliederung aller Empfindungen gewöhnt, daß ihnen die Lust
zum Singen vergeht. Die Liebe, das Hauptthema des Volksliedes, ist schou längst
kein Gegenstand der Poesie mehr — die heutige Versemacherei gehört mehr in die
Industrie als in die Poesie —, da sie bei jener wirtschaftlichen Angelegenheit, die
man Eheschließung nennt, nur noch sehr wenig zu sagen hat. Man muß als
bodenlos leichtsinniger unverbesserlicher Taugenichts mit der Gesellschaft gebrochen
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