Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Zentrum und Sozialdemokratie. Höchst auffällig ist der Eifer, womit Maßgebliches und Unmaßgebliches Zentrum und Sozialdemokratie. Höchst auffällig ist der Eifer, womit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208976"/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> Zentrum und Sozialdemokratie.</head> <p xml:id="ID_1164" next="#ID_1165"> Höchst auffällig ist der Eifer, womit<lb/> sich die Zeutrumspresse seit dem 1. Oktober der Bekämpfung der Sozinldemokrntie<lb/> widmet. So lange das Sozialistengesetz in Kraft stand, war in nltrnmontnnen<lb/> Zeitungsartikeln und Agitationsreden öfter von den berechtigten Forderungen als<lb/> von den Irrlehren und verwerflichen Bestrebungen der Sozialistenpartei die Rede,<lb/> sodaß man seinerzeit von einer Neichstagsmajorität Richter-Windthorst-Grillenberger<lb/> sprechen durfte. Jetzt aber widmen die Zentrumsblätter der Widerlegung der<lb/> sozialistischen Lehren fast täglich spaltenlauge Artikel, und wenn Männer wie Pro¬<lb/> fessor Brentano oder die Mitarbeiter der Grenzboten auf die Zeichen einer Besse¬<lb/> rung der Svzinlistenpartci hinweisen und deren Verwandlung in eine ans gesetz¬<lb/> lichem Boden wirkende Arbeiterpartei für möglich und sogar wahrscheinlich erklären,<lb/> so werden jene Blätter förmlich nervös und warnen, man solle sich durch die<lb/> heuchlerischen Reden eiues Bebel oder Liebknecht ja nicht täuschen lassen. Dieser<lb/> Frontwechsel ist, wie gesagt, auffällig, aber leicht zu erkläre«. Bis zum 1. Oktober<lb/> waren die Ultramontanen natürliche Bundesgenossen der Sozialdemokraten, weil sie<lb/> mit diesen das Interesse an der Beseitigung aller Ausnahmegesetze teilten. So¬<lb/> dann war die Gefahr gering, daß in Gegenden, wo die Zentruiuspartci herrscht,<lb/> die Arbeiter der Sozialdemokratie zufielen. Es war leicht, die an Gehorsam gegen<lb/> die Geistlichkeit gewöhnte Menge, mit Abschen vor einer Partei zu erfüllen, die<lb/> allgemein beschuldigt wurde, das; sie auf Vernichtung der Religion, der Familie<lb/> und der bürgerlichen Ordnung ausgehe, und die das Gegenteil nicht beweisen<lb/> konnte, weil sie zur Geheimhaltung ihres Programms, ihrer Absichten und An¬<lb/> sichten gezwungen war. Außerdem wurden die Arbeiterinteressen von der Zentrums¬<lb/> fraktion nebenbei mit wahrgenommen, soweit die darin stark vertretenen agrarischen<lb/> Interessen es gestatteten, und so war denn für die katholischen Arbeiter die Ver¬<lb/> suchung nicht stark, einer Vereinigung beizutreten, deren ungesetzliches und heim¬<lb/> liches Gebahren sowohl ihr religiöses Gewissen bedrückt, wie auch ihnen mancherlei<lb/> Unannehmlichkeiten und sogar Gefahren zugezogen haben würde. Das alles ist<lb/> jetzt anders geworden. Durch Beitritt zur sozialdemokratischen Partei wird keine<lb/> staatsbürgerliche Pflicht mehr verletzt und kein Zusammenstoß mit der Polizei ris-<lb/> kirt. Und wenn die Sozialistcnführer feierlich versichern, daß sie die Religion als<lb/> Privatsache behandeln und die Geschäfte der Freigemeindler nicht besorgen wollen,<lb/> so fallen auch die religiösen Bedenken hinweg. Und da nach Beendigung der<lb/> „diokletianischen Verfolgung" der Fortbestand einer besondern katholischen Partei<lb/> keinen rechten Sinn mehr hat, so wird so mancher Arbeiter sich sagen: warum<lb/> soll ich es nicht einmal mit meinen Kameraden versuchen, die doch mindestens<lb/> ebenso gut wissen, was uns not thut, wie der Herr Kaplan, und dabei nicht, wie<lb/> dieser, Nebenzwecke verfolgen? Ein Grund mehr für die Ordnnngsfrennde nnter<lb/> den Protestanten, die allmähliche Umbildung der revolutionären Sozialistenpnrtei<lb/> in eine auf gesetzlichem Boden wirkende Arbeiterpartei zu befördern! Es wäre<lb/> nicht der schlechteste Dienst, den diese neue Partei dem Vaterlande erwiese, wenn</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0397]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zentrum und Sozialdemokratie. Höchst auffällig ist der Eifer, womit
sich die Zeutrumspresse seit dem 1. Oktober der Bekämpfung der Sozinldemokrntie
widmet. So lange das Sozialistengesetz in Kraft stand, war in nltrnmontnnen
Zeitungsartikeln und Agitationsreden öfter von den berechtigten Forderungen als
von den Irrlehren und verwerflichen Bestrebungen der Sozialistenpartei die Rede,
sodaß man seinerzeit von einer Neichstagsmajorität Richter-Windthorst-Grillenberger
sprechen durfte. Jetzt aber widmen die Zentrumsblätter der Widerlegung der
sozialistischen Lehren fast täglich spaltenlauge Artikel, und wenn Männer wie Pro¬
fessor Brentano oder die Mitarbeiter der Grenzboten auf die Zeichen einer Besse¬
rung der Svzinlistenpartci hinweisen und deren Verwandlung in eine ans gesetz¬
lichem Boden wirkende Arbeiterpartei für möglich und sogar wahrscheinlich erklären,
so werden jene Blätter förmlich nervös und warnen, man solle sich durch die
heuchlerischen Reden eiues Bebel oder Liebknecht ja nicht täuschen lassen. Dieser
Frontwechsel ist, wie gesagt, auffällig, aber leicht zu erkläre«. Bis zum 1. Oktober
waren die Ultramontanen natürliche Bundesgenossen der Sozialdemokraten, weil sie
mit diesen das Interesse an der Beseitigung aller Ausnahmegesetze teilten. So¬
dann war die Gefahr gering, daß in Gegenden, wo die Zentruiuspartci herrscht,
die Arbeiter der Sozialdemokratie zufielen. Es war leicht, die an Gehorsam gegen
die Geistlichkeit gewöhnte Menge, mit Abschen vor einer Partei zu erfüllen, die
allgemein beschuldigt wurde, das; sie auf Vernichtung der Religion, der Familie
und der bürgerlichen Ordnung ausgehe, und die das Gegenteil nicht beweisen
konnte, weil sie zur Geheimhaltung ihres Programms, ihrer Absichten und An¬
sichten gezwungen war. Außerdem wurden die Arbeiterinteressen von der Zentrums¬
fraktion nebenbei mit wahrgenommen, soweit die darin stark vertretenen agrarischen
Interessen es gestatteten, und so war denn für die katholischen Arbeiter die Ver¬
suchung nicht stark, einer Vereinigung beizutreten, deren ungesetzliches und heim¬
liches Gebahren sowohl ihr religiöses Gewissen bedrückt, wie auch ihnen mancherlei
Unannehmlichkeiten und sogar Gefahren zugezogen haben würde. Das alles ist
jetzt anders geworden. Durch Beitritt zur sozialdemokratischen Partei wird keine
staatsbürgerliche Pflicht mehr verletzt und kein Zusammenstoß mit der Polizei ris-
kirt. Und wenn die Sozialistcnführer feierlich versichern, daß sie die Religion als
Privatsache behandeln und die Geschäfte der Freigemeindler nicht besorgen wollen,
so fallen auch die religiösen Bedenken hinweg. Und da nach Beendigung der
„diokletianischen Verfolgung" der Fortbestand einer besondern katholischen Partei
keinen rechten Sinn mehr hat, so wird so mancher Arbeiter sich sagen: warum
soll ich es nicht einmal mit meinen Kameraden versuchen, die doch mindestens
ebenso gut wissen, was uns not thut, wie der Herr Kaplan, und dabei nicht, wie
dieser, Nebenzwecke verfolgen? Ein Grund mehr für die Ordnnngsfrennde nnter
den Protestanten, die allmähliche Umbildung der revolutionären Sozialistenpnrtei
in eine auf gesetzlichem Boden wirkende Arbeiterpartei zu befördern! Es wäre
nicht der schlechteste Dienst, den diese neue Partei dem Vaterlande erwiese, wenn
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