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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der Verein für Schulreform

nach Art der Natnrgewnlten in rücksichtsloser Weise Verwüstungen anf dein
Gebiete der bestehenden Ordnung anrichtet, denen bei rechter Einsicht zur rechten
Zeit Wohl zu begegnen gewesen wäre. Es ist eine alte Wahrheit: wer sich nicht
zu billigen Reformen herbeiläßt, öffnet Revolutionen Thür und Thor. Aber
diese alte Wahrheit wird oft vergessen, weil sie so unbequem ist. Deshalb ist
es gewiß nicht ungerechtfertigt, wieder einmal daran zu mahnen.

Schlimm wäre es, wenn die sozialen Verhältnisse sich bereits so zugespitzt
hätten, daß sie überhaupt keine Reformen mehr vertragen könnten, oder daß
Reformen in einem Teile das Bestehen des Ganzen gefährdeten. So liegt
aber die Sache noch nicht. Noch ist es Zeit, einen jähen Sturz und das
damit verbundene Unheil abzuwenden. Aber man lasse die Tage nicht un¬
genutzt vorübergehen, um nicht in den Zeiten des Sturmes den Vorwurf zu
hören: Ihr habt es nicht besser gewollt!




Der Verein für Schulreform
Von Franz Pfalz

e brennender eine das öffentliche Leben betreffende Frage wird,
desto hastiger, heftiger, man möchte sagen zudringlicher werden
die Vorschläge, die von Berufenen und Unberufenen zu ihrer
Lösung gemacht werden. Auf diesem Punkte ist zur Zeit die
Erziehungsfrage angekommen. Jeder Vater, der sich mit der
körperlichen und geistigen Ausbildung seines Kindes ernstlich beschäftigt, fühlt,
daß die öffentliche Erziehung, eins der wichtigsten Arbeitsgebiete des Kultur¬
lebens, trotz aller Fortschritte, die unser Schulwesen im Wissen und Können
gemacht hat, hinter andern Gebieten, der Industrie, dem Weltverkehr, der
Rechtspflege, der Staatsverwaltung, dem Militnrwesen, ja selbst hinter der
gesamten Lebensweise zurückgeblieben ist. Uns Deutschen im neuen Reiche wird
das doppelt fühlbar, und am fühlbarsten, wenn wir unser höheres Schulwesen
betrachten. In den Grundzügen ist die Organisation der höhern Schulen und
die Methode des Unterrichtes trotz Pestalozzi dieselbe geblieben wie im für-f-
zehnten und sechzehnte" Jahrhundert, nnr der Unterrichtsstoff ist auf eine un¬
heimliche Weise angewachsen und will in den alten Rahmen nicht mehr passen-
Während die öffentliche Gesundheitspflege und die ärztliche .Kunst immer "lehr
lind mehr auf eine naturgemäße Lebensweise hinarbeiten, sperren wir das
heranwachsende Geschlecht zehn bis zwölf Jahre lang, und zwar, die Elementar-


Der Verein für Schulreform

nach Art der Natnrgewnlten in rücksichtsloser Weise Verwüstungen anf dein
Gebiete der bestehenden Ordnung anrichtet, denen bei rechter Einsicht zur rechten
Zeit Wohl zu begegnen gewesen wäre. Es ist eine alte Wahrheit: wer sich nicht
zu billigen Reformen herbeiläßt, öffnet Revolutionen Thür und Thor. Aber
diese alte Wahrheit wird oft vergessen, weil sie so unbequem ist. Deshalb ist
es gewiß nicht ungerechtfertigt, wieder einmal daran zu mahnen.

Schlimm wäre es, wenn die sozialen Verhältnisse sich bereits so zugespitzt
hätten, daß sie überhaupt keine Reformen mehr vertragen könnten, oder daß
Reformen in einem Teile das Bestehen des Ganzen gefährdeten. So liegt
aber die Sache noch nicht. Noch ist es Zeit, einen jähen Sturz und das
damit verbundene Unheil abzuwenden. Aber man lasse die Tage nicht un¬
genutzt vorübergehen, um nicht in den Zeiten des Sturmes den Vorwurf zu
hören: Ihr habt es nicht besser gewollt!




Der Verein für Schulreform
Von Franz Pfalz

e brennender eine das öffentliche Leben betreffende Frage wird,
desto hastiger, heftiger, man möchte sagen zudringlicher werden
die Vorschläge, die von Berufenen und Unberufenen zu ihrer
Lösung gemacht werden. Auf diesem Punkte ist zur Zeit die
Erziehungsfrage angekommen. Jeder Vater, der sich mit der
körperlichen und geistigen Ausbildung seines Kindes ernstlich beschäftigt, fühlt,
daß die öffentliche Erziehung, eins der wichtigsten Arbeitsgebiete des Kultur¬
lebens, trotz aller Fortschritte, die unser Schulwesen im Wissen und Können
gemacht hat, hinter andern Gebieten, der Industrie, dem Weltverkehr, der
Rechtspflege, der Staatsverwaltung, dem Militnrwesen, ja selbst hinter der
gesamten Lebensweise zurückgeblieben ist. Uns Deutschen im neuen Reiche wird
das doppelt fühlbar, und am fühlbarsten, wenn wir unser höheres Schulwesen
betrachten. In den Grundzügen ist die Organisation der höhern Schulen und
die Methode des Unterrichtes trotz Pestalozzi dieselbe geblieben wie im für-f-
zehnten und sechzehnte» Jahrhundert, nnr der Unterrichtsstoff ist auf eine un¬
heimliche Weise angewachsen und will in den alten Rahmen nicht mehr passen-
Während die öffentliche Gesundheitspflege und die ärztliche .Kunst immer »lehr
lind mehr auf eine naturgemäße Lebensweise hinarbeiten, sperren wir das
heranwachsende Geschlecht zehn bis zwölf Jahre lang, und zwar, die Elementar-


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[0600] Der Verein für Schulreform nach Art der Natnrgewnlten in rücksichtsloser Weise Verwüstungen anf dein Gebiete der bestehenden Ordnung anrichtet, denen bei rechter Einsicht zur rechten Zeit Wohl zu begegnen gewesen wäre. Es ist eine alte Wahrheit: wer sich nicht zu billigen Reformen herbeiläßt, öffnet Revolutionen Thür und Thor. Aber diese alte Wahrheit wird oft vergessen, weil sie so unbequem ist. Deshalb ist es gewiß nicht ungerechtfertigt, wieder einmal daran zu mahnen. Schlimm wäre es, wenn die sozialen Verhältnisse sich bereits so zugespitzt hätten, daß sie überhaupt keine Reformen mehr vertragen könnten, oder daß Reformen in einem Teile das Bestehen des Ganzen gefährdeten. So liegt aber die Sache noch nicht. Noch ist es Zeit, einen jähen Sturz und das damit verbundene Unheil abzuwenden. Aber man lasse die Tage nicht un¬ genutzt vorübergehen, um nicht in den Zeiten des Sturmes den Vorwurf zu hören: Ihr habt es nicht besser gewollt! Der Verein für Schulreform Von Franz Pfalz e brennender eine das öffentliche Leben betreffende Frage wird, desto hastiger, heftiger, man möchte sagen zudringlicher werden die Vorschläge, die von Berufenen und Unberufenen zu ihrer Lösung gemacht werden. Auf diesem Punkte ist zur Zeit die Erziehungsfrage angekommen. Jeder Vater, der sich mit der körperlichen und geistigen Ausbildung seines Kindes ernstlich beschäftigt, fühlt, daß die öffentliche Erziehung, eins der wichtigsten Arbeitsgebiete des Kultur¬ lebens, trotz aller Fortschritte, die unser Schulwesen im Wissen und Können gemacht hat, hinter andern Gebieten, der Industrie, dem Weltverkehr, der Rechtspflege, der Staatsverwaltung, dem Militnrwesen, ja selbst hinter der gesamten Lebensweise zurückgeblieben ist. Uns Deutschen im neuen Reiche wird das doppelt fühlbar, und am fühlbarsten, wenn wir unser höheres Schulwesen betrachten. In den Grundzügen ist die Organisation der höhern Schulen und die Methode des Unterrichtes trotz Pestalozzi dieselbe geblieben wie im für-f- zehnten und sechzehnte» Jahrhundert, nnr der Unterrichtsstoff ist auf eine un¬ heimliche Weise angewachsen und will in den alten Rahmen nicht mehr passen- Während die öffentliche Gesundheitspflege und die ärztliche .Kunst immer »lehr lind mehr auf eine naturgemäße Lebensweise hinarbeiten, sperren wir das heranwachsende Geschlecht zehn bis zwölf Jahre lang, und zwar, die Elementar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/600>, abgerufen am 22.07.2024.