Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Strcifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Wird sie glauben, das große Wort, das ihre Organe geführt haben, auslösen
und mit Hilfe der Freisinnigen und deS Zentrums die Regierungen aufs
Trockne setzen zu sollen? DaS ist die Frage.

Die Organe der uationalliberalen Partei spielen hiernach -- wir sagen
dies im vollsten Wohlwollen gegen sie -- ein gefährliches Spiel. Sie können
ihre Partei in die Lage bringen, entweder die gedachten Porausverküudigungen
verleugnen zu müssen -- was der Partei eine Flut von Hohn bei den übrigen
Parteien eintragen würde -- oder in einen ernsten Konflikt mit den Regierungen
zu geraten. Die Sachlage ist für die Partei ganz ähnlich, wie die im Mai
1878. Auch damals hatte sie sich in doktrinärer Weisheit verfangen. Die
Folgen davon sind nicht atisgeblieben. Wir würden es im Interesse der Partei
und ganz Deutschlands tief beklagen, wenn jetzt an den Kampf über das
Sozialistengesetz sich ähnliche Folgen knüpfen sollten.

Der Gedanke, das Svzialistengesetz müsse, weil es nun schon so lauge
bestanden habe, wieder abgeschafft werden, ist damit vergleichbar, daß ein Mann,
der einen Leibesschaden erlitten hat und deshalb ein schützendes Band trägt,
auf deu Gedanken käme, er müsse das Band, weil er es doch nun so lange
getragen habe, wieder ablegen. Angenehm zu tragen ist ein solches Band auch
nicht. Wer es aber nuvernnnftigerweise ablegt, dem kann das sehr verderblich
werden.




Atreiszüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von L, I. Groth
^. Sullv prudhoinine

n unserm letzten Streifzuge haben Nur gesehen, in wie enger
Berührung nud Wechselwirkung der Entwicklungsgang der litte¬
rarischen Kritik mit den philosophischen Strömungen unsers Jahr¬
hunderts in Frankreich steht, wie alle ans einander folgenden
Richtungen des spekulativen Lebens, der Spiritualismus und der
Eklektizismus, der Positivismus nud Materialismus, die Auffassung und Würdi-
gung litterarischer Erzeugnisse unverkennbar bestimmt haben.

Bei der eifrigen Pflege der ästhetischen Kritik im neunzehnten Jahrhundert
ist es um fo auffallender, daß die Franzosen so wenig auf dem Gebiete der
Kunsttheorie gearbeitet und fast garnichts zu dein selbständigen Ausbau dieses


Strcifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Wird sie glauben, das große Wort, das ihre Organe geführt haben, auslösen
und mit Hilfe der Freisinnigen und deS Zentrums die Regierungen aufs
Trockne setzen zu sollen? DaS ist die Frage.

Die Organe der uationalliberalen Partei spielen hiernach — wir sagen
dies im vollsten Wohlwollen gegen sie — ein gefährliches Spiel. Sie können
ihre Partei in die Lage bringen, entweder die gedachten Porausverküudigungen
verleugnen zu müssen — was der Partei eine Flut von Hohn bei den übrigen
Parteien eintragen würde — oder in einen ernsten Konflikt mit den Regierungen
zu geraten. Die Sachlage ist für die Partei ganz ähnlich, wie die im Mai
1878. Auch damals hatte sie sich in doktrinärer Weisheit verfangen. Die
Folgen davon sind nicht atisgeblieben. Wir würden es im Interesse der Partei
und ganz Deutschlands tief beklagen, wenn jetzt an den Kampf über das
Sozialistengesetz sich ähnliche Folgen knüpfen sollten.

Der Gedanke, das Svzialistengesetz müsse, weil es nun schon so lauge
bestanden habe, wieder abgeschafft werden, ist damit vergleichbar, daß ein Mann,
der einen Leibesschaden erlitten hat und deshalb ein schützendes Band trägt,
auf deu Gedanken käme, er müsse das Band, weil er es doch nun so lange
getragen habe, wieder ablegen. Angenehm zu tragen ist ein solches Band auch
nicht. Wer es aber nuvernnnftigerweise ablegt, dem kann das sehr verderblich
werden.




Atreiszüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von L, I. Groth
^. Sullv prudhoinine

n unserm letzten Streifzuge haben Nur gesehen, in wie enger
Berührung nud Wechselwirkung der Entwicklungsgang der litte¬
rarischen Kritik mit den philosophischen Strömungen unsers Jahr¬
hunderts in Frankreich steht, wie alle ans einander folgenden
Richtungen des spekulativen Lebens, der Spiritualismus und der
Eklektizismus, der Positivismus nud Materialismus, die Auffassung und Würdi-
gung litterarischer Erzeugnisse unverkennbar bestimmt haben.

Bei der eifrigen Pflege der ästhetischen Kritik im neunzehnten Jahrhundert
ist es um fo auffallender, daß die Franzosen so wenig auf dem Gebiete der
Kunsttheorie gearbeitet und fast garnichts zu dein selbständigen Ausbau dieses


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206018"/>
          <fw type="header" place="top"> Strcifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_36" prev="#ID_35"> Wird sie glauben, das große Wort, das ihre Organe geführt haben, auslösen<lb/>
und mit Hilfe der Freisinnigen und deS Zentrums die Regierungen aufs<lb/>
Trockne setzen zu sollen?  DaS ist die Frage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_37"> Die Organe der uationalliberalen Partei spielen hiernach &#x2014; wir sagen<lb/>
dies im vollsten Wohlwollen gegen sie &#x2014; ein gefährliches Spiel. Sie können<lb/>
ihre Partei in die Lage bringen, entweder die gedachten Porausverküudigungen<lb/>
verleugnen zu müssen &#x2014; was der Partei eine Flut von Hohn bei den übrigen<lb/>
Parteien eintragen würde &#x2014; oder in einen ernsten Konflikt mit den Regierungen<lb/>
zu geraten. Die Sachlage ist für die Partei ganz ähnlich, wie die im Mai<lb/>
1878. Auch damals hatte sie sich in doktrinärer Weisheit verfangen. Die<lb/>
Folgen davon sind nicht atisgeblieben. Wir würden es im Interesse der Partei<lb/>
und ganz Deutschlands tief beklagen, wenn jetzt an den Kampf über das<lb/>
Sozialistengesetz sich ähnliche Folgen knüpfen sollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_38"> Der Gedanke, das Svzialistengesetz müsse, weil es nun schon so lauge<lb/>
bestanden habe, wieder abgeschafft werden, ist damit vergleichbar, daß ein Mann,<lb/>
der einen Leibesschaden erlitten hat und deshalb ein schützendes Band trägt,<lb/>
auf deu Gedanken käme, er müsse das Band, weil er es doch nun so lange<lb/>
getragen habe, wieder ablegen. Angenehm zu tragen ist ein solches Band auch<lb/>
nicht. Wer es aber nuvernnnftigerweise ablegt, dem kann das sehr verderblich<lb/>
werden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Atreiszüge durch die französische Litteratur<lb/>
der Gegenwart<lb/><note type="byline"> von L, I. Groth</note><lb/>
^. Sullv prudhoinine </head><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> n unserm letzten Streifzuge haben Nur gesehen, in wie enger<lb/>
Berührung nud Wechselwirkung der Entwicklungsgang der litte¬<lb/>
rarischen Kritik mit den philosophischen Strömungen unsers Jahr¬<lb/>
hunderts in Frankreich steht, wie alle ans einander folgenden<lb/>
Richtungen des spekulativen Lebens, der Spiritualismus und der<lb/>
Eklektizismus, der Positivismus nud Materialismus, die Auffassung und Würdi-<lb/>
gung litterarischer Erzeugnisse unverkennbar bestimmt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_40" next="#ID_41"> Bei der eifrigen Pflege der ästhetischen Kritik im neunzehnten Jahrhundert<lb/>
ist es um fo auffallender, daß die Franzosen so wenig auf dem Gebiete der<lb/>
Kunsttheorie gearbeitet und fast garnichts zu dein selbständigen Ausbau dieses</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] Strcifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart Wird sie glauben, das große Wort, das ihre Organe geführt haben, auslösen und mit Hilfe der Freisinnigen und deS Zentrums die Regierungen aufs Trockne setzen zu sollen? DaS ist die Frage. Die Organe der uationalliberalen Partei spielen hiernach — wir sagen dies im vollsten Wohlwollen gegen sie — ein gefährliches Spiel. Sie können ihre Partei in die Lage bringen, entweder die gedachten Porausverküudigungen verleugnen zu müssen — was der Partei eine Flut von Hohn bei den übrigen Parteien eintragen würde — oder in einen ernsten Konflikt mit den Regierungen zu geraten. Die Sachlage ist für die Partei ganz ähnlich, wie die im Mai 1878. Auch damals hatte sie sich in doktrinärer Weisheit verfangen. Die Folgen davon sind nicht atisgeblieben. Wir würden es im Interesse der Partei und ganz Deutschlands tief beklagen, wenn jetzt an den Kampf über das Sozialistengesetz sich ähnliche Folgen knüpfen sollten. Der Gedanke, das Svzialistengesetz müsse, weil es nun schon so lauge bestanden habe, wieder abgeschafft werden, ist damit vergleichbar, daß ein Mann, der einen Leibesschaden erlitten hat und deshalb ein schützendes Band trägt, auf deu Gedanken käme, er müsse das Band, weil er es doch nun so lange getragen habe, wieder ablegen. Angenehm zu tragen ist ein solches Band auch nicht. Wer es aber nuvernnnftigerweise ablegt, dem kann das sehr verderblich werden. Atreiszüge durch die französische Litteratur der Gegenwart von L, I. Groth ^. Sullv prudhoinine n unserm letzten Streifzuge haben Nur gesehen, in wie enger Berührung nud Wechselwirkung der Entwicklungsgang der litte¬ rarischen Kritik mit den philosophischen Strömungen unsers Jahr¬ hunderts in Frankreich steht, wie alle ans einander folgenden Richtungen des spekulativen Lebens, der Spiritualismus und der Eklektizismus, der Positivismus nud Materialismus, die Auffassung und Würdi- gung litterarischer Erzeugnisse unverkennbar bestimmt haben. Bei der eifrigen Pflege der ästhetischen Kritik im neunzehnten Jahrhundert ist es um fo auffallender, daß die Franzosen so wenig auf dem Gebiete der Kunsttheorie gearbeitet und fast garnichts zu dein selbständigen Ausbau dieses

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/19>, abgerufen am 22.07.2024.