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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe
Henrik Pontoppidan Idyll von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Manu
(Fortsetzn"^)
4

it dieser traurigen Begebenheit geriet auch die einst so berühmte
Herberge in traurige Vergessenheit; seit jenem Tage nahm der
ruhige Auflösungsprozeß seinen Anfang, und von Jahr zu Jahr
sank das Haus über seinen Eichenbrücken tiefer zusammen. Ein
Wald von Nesseln wuchs um seine alten Mauern, sodaß sie den
Blicken der Vvrüberfahrenden fast ganz verborgen waren, und drinnen, hinter
der verschlossenen Thür, den flaschengrünen Fensterscheiben, saß Ellen in dem
Dämmerlicht der großen, leeren Stuben, wie lebendig begraben,'

Sie wohnte hier ganz allein mit ihrer kleinen Tochter und saß gewöhnlich
ans dem alten Platz, in der Ecke am Fenster, mit verschleiertem Blick vor sich
hinstarrend, als grübelte sie unausgesetzt über ihr Schicksal nach. Aber wie
unbeachtet und einsam auch die Stunden und Jahre um ihr vorüberflogen, so
waren sie doch nicht spurlos über ihrem Haupte hingegangen. Leute, die ihrer
zufällig ansichtig wurden, stutzten förmlich bei ihrem Anblick, so sehr hatte sie
sich verändert.

Sie hatte unter anderm die Gewohnheit angenommen, erst spät am Tage
aufzustehen, und auch dann konnte sie noch mehrere Stunden halb angekleidet
im Hanse herumschlürfen, in einem, geflickten Unterrock oder gar in ihrem langen,
groben Hemde; ungekämmt hing ihr das Haar über den Rücken herab, und sie
sprach leise vor sich hin, ohne etwas rechtes zu thun. Unter den Renten ließ
sie sich so gut wie garnicht mehr sehen, es konnten oft mehrere Tage vergehen,
ohne daß sie über ihre Thürschwelle kam. Und durch das viele Stubenhocker
war ihr früher schon stark entwickelter Körper fast unförmlich geworden. Das
Gesicht war merkwürdig aufgedunsen, lind die braunen Augen sahen unheimlich
mit schwerem, verschleiertem Blick um sich. Im Dorfe erzählte man sich,
sie trinke.




Junge Liebe
Henrik Pontoppidan Idyll von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Manu
(Fortsetzn»^)
4

it dieser traurigen Begebenheit geriet auch die einst so berühmte
Herberge in traurige Vergessenheit; seit jenem Tage nahm der
ruhige Auflösungsprozeß seinen Anfang, und von Jahr zu Jahr
sank das Haus über seinen Eichenbrücken tiefer zusammen. Ein
Wald von Nesseln wuchs um seine alten Mauern, sodaß sie den
Blicken der Vvrüberfahrenden fast ganz verborgen waren, und drinnen, hinter
der verschlossenen Thür, den flaschengrünen Fensterscheiben, saß Ellen in dem
Dämmerlicht der großen, leeren Stuben, wie lebendig begraben,'

Sie wohnte hier ganz allein mit ihrer kleinen Tochter und saß gewöhnlich
ans dem alten Platz, in der Ecke am Fenster, mit verschleiertem Blick vor sich
hinstarrend, als grübelte sie unausgesetzt über ihr Schicksal nach. Aber wie
unbeachtet und einsam auch die Stunden und Jahre um ihr vorüberflogen, so
waren sie doch nicht spurlos über ihrem Haupte hingegangen. Leute, die ihrer
zufällig ansichtig wurden, stutzten förmlich bei ihrem Anblick, so sehr hatte sie
sich verändert.

Sie hatte unter anderm die Gewohnheit angenommen, erst spät am Tage
aufzustehen, und auch dann konnte sie noch mehrere Stunden halb angekleidet
im Hanse herumschlürfen, in einem, geflickten Unterrock oder gar in ihrem langen,
groben Hemde; ungekämmt hing ihr das Haar über den Rücken herab, und sie
sprach leise vor sich hin, ohne etwas rechtes zu thun. Unter den Renten ließ
sie sich so gut wie garnicht mehr sehen, es konnten oft mehrere Tage vergehen,
ohne daß sie über ihre Thürschwelle kam. Und durch das viele Stubenhocker
war ihr früher schon stark entwickelter Körper fast unförmlich geworden. Das
Gesicht war merkwürdig aufgedunsen, lind die braunen Augen sahen unheimlich
mit schwerem, verschleiertem Blick um sich. Im Dorfe erzählte man sich,
sie trinke.


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[0102] [Abbildung] Junge Liebe Henrik Pontoppidan Idyll von Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Manu (Fortsetzn»^) 4 it dieser traurigen Begebenheit geriet auch die einst so berühmte Herberge in traurige Vergessenheit; seit jenem Tage nahm der ruhige Auflösungsprozeß seinen Anfang, und von Jahr zu Jahr sank das Haus über seinen Eichenbrücken tiefer zusammen. Ein Wald von Nesseln wuchs um seine alten Mauern, sodaß sie den Blicken der Vvrüberfahrenden fast ganz verborgen waren, und drinnen, hinter der verschlossenen Thür, den flaschengrünen Fensterscheiben, saß Ellen in dem Dämmerlicht der großen, leeren Stuben, wie lebendig begraben,' Sie wohnte hier ganz allein mit ihrer kleinen Tochter und saß gewöhnlich ans dem alten Platz, in der Ecke am Fenster, mit verschleiertem Blick vor sich hinstarrend, als grübelte sie unausgesetzt über ihr Schicksal nach. Aber wie unbeachtet und einsam auch die Stunden und Jahre um ihr vorüberflogen, so waren sie doch nicht spurlos über ihrem Haupte hingegangen. Leute, die ihrer zufällig ansichtig wurden, stutzten förmlich bei ihrem Anblick, so sehr hatte sie sich verändert. Sie hatte unter anderm die Gewohnheit angenommen, erst spät am Tage aufzustehen, und auch dann konnte sie noch mehrere Stunden halb angekleidet im Hanse herumschlürfen, in einem, geflickten Unterrock oder gar in ihrem langen, groben Hemde; ungekämmt hing ihr das Haar über den Rücken herab, und sie sprach leise vor sich hin, ohne etwas rechtes zu thun. Unter den Renten ließ sie sich so gut wie garnicht mehr sehen, es konnten oft mehrere Tage vergehen, ohne daß sie über ihre Thürschwelle kam. Und durch das viele Stubenhocker war ihr früher schon stark entwickelter Körper fast unförmlich geworden. Das Gesicht war merkwürdig aufgedunsen, lind die braunen Augen sahen unheimlich mit schwerem, verschleiertem Blick um sich. Im Dorfe erzählte man sich, sie trinke.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/102>, abgerufen am 23.06.2024.