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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

gegenüber den naturwissenschaftlichen Elementen die Schwierigkeit noch um ein
Beträchtliches. Immerhin aber darf die litterarische .Kritik nicht auf ihr Recht
verzichten, die poetische Einheit des Kunstwerks in einem wie dem andern
Falle zu fordern und an die Grenzen zu mahnen, die man gern verwischen
oder gar leugnen möchte.

(Schluß folgt)




^"treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von G. I. Groth 2

uf dem Gebiete der litterarischen Kritik herrscht gegenwärtig in
Frankreich eine rege Thätigkeit; das oberflächliche Feuilleton-
geschwätz und die ästhetische Salonplauderei, die selbst in ernsthaft
zu nehmenden Handbüchern der Litteratur fortgesetzt wurde,
scheint immermehr tiefergehenden Studien Platz zu machen.
Man fängt in Frankreich nachgerade an, die Bedeutung und den Wert gründ¬
licher litterargeschichtlicher Untersuchungen für die Erkenntnis des gesamten
Kulturlebens zu begreife" und zu würdigen; man giebt allmählich die Ansicht
auf, daß der Anfang der französischen Litteratur erst von dein sechzehnten Jahr¬
hundert, dem Zeitalter der Renaissance, zu rechnen sei, wie es die klassisch¬
doktrinären Kunstrichter gethan haben und noch zu thun pflegen; man nimmt
sich endlich die Mühe, das Mittelnlter mit seinen charakteristischen, aus dein
ureigner Volksgeiste hervorgegangenen Schöpfungen zu verstehen und in
ihnen die Wurzeln zu erkennen, ans denen die französische Litteratur hervor¬
gesprossen ist.

Mit Verwunderung hat man eine Reihe auffallender Ähnlichkeiten zwischen
den litterarischen Strömungen in unserm Jahrhundert und der mittelalterlichen
Poesie entdeckt. Hier wie dort erscheint dieselbe absolute Freiheit von jedem
Regelzwange, eine gleiche einseitige Herrschaft der epischen Dichtung, dasselbe
Vorwalten der sinnlichen Liebe als dichterischer Stoff, eine'ähnliche Richtung
zum kräftiget: Realismus und verschwommenen Mystizismus, kurz, man ist
mit dem Geiste des Mittelalters vertrauter geworden, als es frühere Jahr¬
hunderte waren.


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

gegenüber den naturwissenschaftlichen Elementen die Schwierigkeit noch um ein
Beträchtliches. Immerhin aber darf die litterarische .Kritik nicht auf ihr Recht
verzichten, die poetische Einheit des Kunstwerks in einem wie dem andern
Falle zu fordern und an die Grenzen zu mahnen, die man gern verwischen
oder gar leugnen möchte.

(Schluß folgt)




^»treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von G. I. Groth 2

uf dem Gebiete der litterarischen Kritik herrscht gegenwärtig in
Frankreich eine rege Thätigkeit; das oberflächliche Feuilleton-
geschwätz und die ästhetische Salonplauderei, die selbst in ernsthaft
zu nehmenden Handbüchern der Litteratur fortgesetzt wurde,
scheint immermehr tiefergehenden Studien Platz zu machen.
Man fängt in Frankreich nachgerade an, die Bedeutung und den Wert gründ¬
licher litterargeschichtlicher Untersuchungen für die Erkenntnis des gesamten
Kulturlebens zu begreife» und zu würdigen; man giebt allmählich die Ansicht
auf, daß der Anfang der französischen Litteratur erst von dein sechzehnten Jahr¬
hundert, dem Zeitalter der Renaissance, zu rechnen sei, wie es die klassisch¬
doktrinären Kunstrichter gethan haben und noch zu thun pflegen; man nimmt
sich endlich die Mühe, das Mittelnlter mit seinen charakteristischen, aus dein
ureigner Volksgeiste hervorgegangenen Schöpfungen zu verstehen und in
ihnen die Wurzeln zu erkennen, ans denen die französische Litteratur hervor¬
gesprossen ist.

Mit Verwunderung hat man eine Reihe auffallender Ähnlichkeiten zwischen
den litterarischen Strömungen in unserm Jahrhundert und der mittelalterlichen
Poesie entdeckt. Hier wie dort erscheint dieselbe absolute Freiheit von jedem
Regelzwange, eine gleiche einseitige Herrschaft der epischen Dichtung, dasselbe
Vorwalten der sinnlichen Liebe als dichterischer Stoff, eine'ähnliche Richtung
zum kräftiget: Realismus und verschwommenen Mystizismus, kurz, man ist
mit dem Geiste des Mittelalters vertrauter geworden, als es frühere Jahr¬
hunderte waren.


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[0148] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart gegenüber den naturwissenschaftlichen Elementen die Schwierigkeit noch um ein Beträchtliches. Immerhin aber darf die litterarische .Kritik nicht auf ihr Recht verzichten, die poetische Einheit des Kunstwerks in einem wie dem andern Falle zu fordern und an die Grenzen zu mahnen, die man gern verwischen oder gar leugnen möchte. (Schluß folgt) ^»treifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart von G. I. Groth 2 uf dem Gebiete der litterarischen Kritik herrscht gegenwärtig in Frankreich eine rege Thätigkeit; das oberflächliche Feuilleton- geschwätz und die ästhetische Salonplauderei, die selbst in ernsthaft zu nehmenden Handbüchern der Litteratur fortgesetzt wurde, scheint immermehr tiefergehenden Studien Platz zu machen. Man fängt in Frankreich nachgerade an, die Bedeutung und den Wert gründ¬ licher litterargeschichtlicher Untersuchungen für die Erkenntnis des gesamten Kulturlebens zu begreife» und zu würdigen; man giebt allmählich die Ansicht auf, daß der Anfang der französischen Litteratur erst von dein sechzehnten Jahr¬ hundert, dem Zeitalter der Renaissance, zu rechnen sei, wie es die klassisch¬ doktrinären Kunstrichter gethan haben und noch zu thun pflegen; man nimmt sich endlich die Mühe, das Mittelnlter mit seinen charakteristischen, aus dein ureigner Volksgeiste hervorgegangenen Schöpfungen zu verstehen und in ihnen die Wurzeln zu erkennen, ans denen die französische Litteratur hervor¬ gesprossen ist. Mit Verwunderung hat man eine Reihe auffallender Ähnlichkeiten zwischen den litterarischen Strömungen in unserm Jahrhundert und der mittelalterlichen Poesie entdeckt. Hier wie dort erscheint dieselbe absolute Freiheit von jedem Regelzwange, eine gleiche einseitige Herrschaft der epischen Dichtung, dasselbe Vorwalten der sinnlichen Liebe als dichterischer Stoff, eine'ähnliche Richtung zum kräftiget: Realismus und verschwommenen Mystizismus, kurz, man ist mit dem Geiste des Mittelalters vertrauter geworden, als es frühere Jahr¬ hunderte waren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/148>, abgerufen am 24.08.2024.