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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

gewesen; ihr hatte etwas Mächtiges vorgeschwebt, etwas Erhabenes, etwa wie
ein Schwert und rote Flammen! Etwas, das sie hoch erhob und sie auf einen
Thron setzte, und nun war es so kleinlich ausgefallen, so alltäglich, und sie
hatte das Gefühl, als habe sie ihn mehr ausgeschimpft, als sie ihn verfluchte.

Sie hatte doch etwas von Ricks gelernt!

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, während Ricks noch schlief, über¬
wältigt von Müdigkeit, reiste Fennimore ab.




Zwölftes Aapitel.

Während der beiden nun folgenden Jahre streifte Ricks rastlos im Aus¬
lande umher.

Er war sehr einsam. Er hatte keinen Verwandten, keinen Freund, der
seinem Herzen nahe gestanden hätte. Aber eine weit größere Einsamkeit als
diese bedrückte ihn. Denn Wohl kann der klagen und sich verlassen fühlen, der
auf der ganzen weiten Erde keinen Fleck hat, den er segnen, auf den er Gutes
herabflehen kann, wohin sein Herz sich wendet, wenn es einmal übervoll ist,
wonach es sich sehnen kann, wenn die Sehnsucht ihre Schwingen ausbreiten
will; weiß er aber nur den klaren, unwandelbaren Stern eines Lebenszieles
über sich funkeln, so ist ihm keine Nacht so einsam, daß er sich ganz allein
fühlte. Aber Ricks Lhhne hatte keinen Stern. Er wußte nicht, was er mit
sich selber und mit seinen Gaben anfangen sollte. Es war ja ganz schön, daß er
Talent besaß, er konnte es nur nicht verwenden; er ging umher mit dem Gefühl,
als sei er ein Maler, dem die Hände fehlten. Wie beneidete er nicht die andern,
die Großen und die Kleinen, die, wohin sie im Leben auch greifen mochten, stets
irgend einen Anhaltepunkt fanden! Ach, er konnte keinen Anhaltepunkt finden!
Er konnte, so schien es ihm, nur die alten, romantischen Lieder nachsingen, und
alles, was er geschaffen hatte, war auch weiter nichts gewesen. Es war, als
sei sein Talent etwas in ihm Verborgnes, ein stilles Pompeji, oder gleichsam
eine Harfe, die er aus einem Winkel hervorholen konnte. Es war nicht all¬
gegenwärtig, begleitete ihn nicht auf die Straße hinab, saß ihm nicht in den
Augen, kribbelte ihm nicht in den Fingerspitzen, es hatte keine Gewalt über ihn,
sein Talent. Zuweilen schien es ihm, als wäre er ein halbes Jahrhundert zu
spät geboren, zuweilen glaubte er, er sei viel zu früh gekommen. Sein Talent
wurzelte in etwas Längstvergangenem und lebte nur darin, konnte keine Nahrung
aus seinen Ansichten, seiner Überzeugung, seinen Sympathien saugen, konnte
das alles nicht in sich aufnehmen und umgestalten; sie flössen auseinander, diese
zwei Dinge, wie Wasser und Öl, wohl konnte man sie zusammenschütteln, aber
sie konnten nicht vermischt, konnten niemals zu einem Ganzen werden.

Allmählich sing er an, das einzusehen, und es stimmte ihn grenzenlos mi߬
mutig, sodaß er bitter und mißtrauisch aus sich und seine Vergangenheit blickte. Es


Ricks Lyhne.

gewesen; ihr hatte etwas Mächtiges vorgeschwebt, etwas Erhabenes, etwa wie
ein Schwert und rote Flammen! Etwas, das sie hoch erhob und sie auf einen
Thron setzte, und nun war es so kleinlich ausgefallen, so alltäglich, und sie
hatte das Gefühl, als habe sie ihn mehr ausgeschimpft, als sie ihn verfluchte.

Sie hatte doch etwas von Ricks gelernt!

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, während Ricks noch schlief, über¬
wältigt von Müdigkeit, reiste Fennimore ab.




Zwölftes Aapitel.

Während der beiden nun folgenden Jahre streifte Ricks rastlos im Aus¬
lande umher.

Er war sehr einsam. Er hatte keinen Verwandten, keinen Freund, der
seinem Herzen nahe gestanden hätte. Aber eine weit größere Einsamkeit als
diese bedrückte ihn. Denn Wohl kann der klagen und sich verlassen fühlen, der
auf der ganzen weiten Erde keinen Fleck hat, den er segnen, auf den er Gutes
herabflehen kann, wohin sein Herz sich wendet, wenn es einmal übervoll ist,
wonach es sich sehnen kann, wenn die Sehnsucht ihre Schwingen ausbreiten
will; weiß er aber nur den klaren, unwandelbaren Stern eines Lebenszieles
über sich funkeln, so ist ihm keine Nacht so einsam, daß er sich ganz allein
fühlte. Aber Ricks Lhhne hatte keinen Stern. Er wußte nicht, was er mit
sich selber und mit seinen Gaben anfangen sollte. Es war ja ganz schön, daß er
Talent besaß, er konnte es nur nicht verwenden; er ging umher mit dem Gefühl,
als sei er ein Maler, dem die Hände fehlten. Wie beneidete er nicht die andern,
die Großen und die Kleinen, die, wohin sie im Leben auch greifen mochten, stets
irgend einen Anhaltepunkt fanden! Ach, er konnte keinen Anhaltepunkt finden!
Er konnte, so schien es ihm, nur die alten, romantischen Lieder nachsingen, und
alles, was er geschaffen hatte, war auch weiter nichts gewesen. Es war, als
sei sein Talent etwas in ihm Verborgnes, ein stilles Pompeji, oder gleichsam
eine Harfe, die er aus einem Winkel hervorholen konnte. Es war nicht all¬
gegenwärtig, begleitete ihn nicht auf die Straße hinab, saß ihm nicht in den
Augen, kribbelte ihm nicht in den Fingerspitzen, es hatte keine Gewalt über ihn,
sein Talent. Zuweilen schien es ihm, als wäre er ein halbes Jahrhundert zu
spät geboren, zuweilen glaubte er, er sei viel zu früh gekommen. Sein Talent
wurzelte in etwas Längstvergangenem und lebte nur darin, konnte keine Nahrung
aus seinen Ansichten, seiner Überzeugung, seinen Sympathien saugen, konnte
das alles nicht in sich aufnehmen und umgestalten; sie flössen auseinander, diese
zwei Dinge, wie Wasser und Öl, wohl konnte man sie zusammenschütteln, aber
sie konnten nicht vermischt, konnten niemals zu einem Ganzen werden.

Allmählich sing er an, das einzusehen, und es stimmte ihn grenzenlos mi߬
mutig, sodaß er bitter und mißtrauisch aus sich und seine Vergangenheit blickte. Es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/485>, abgerufen am 22.07.2024.