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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur.

halbe Empfindungen in der Spur ihrer staunenden Gedanken dahinzogen, Sie
schloß ihre Augen, blieb aber stehen, das Antlitz dem Spiegel zugewendet.

Sonderbar! wie es so über sie gekommen war, diese Angst zum Aufschreien!
Hatte sie geschrieen? Ihr klang ein Schrei in die Ohren, und sie fühlte eine Er¬
mattung im Halse wie nach einem langen, angstvollen Schrei. Wenn er sie an sich
gerissen hätte, hätte sie die Kraft, hätte sie den Willen gehabt, ihn zurückzustoßen?

Sie öffnete langsam ihre Angen und blickte verstohlen lächelnd zu ihrem
Spiegelbilde wie zu einem Mitwisser, mit dem sie sich nicht allzuweit einlassen
dürfe; dann ging sie durchs Zimmer und suchte Handschuhe, Hut und Mantille
zusammen.

Der Schwindel war wie weggeblasen. Die Schwäche, die sie noch immer
in den Gliedern fühlte, war ihr angenehm, und um sie besser zu fühlen, fuhr
sie fort, umherzugehen. Heimlich, gleichsam zufällig, gab sie dem Schaukelstühle
einen kleinen vertraulichen Stoß mit dem Ellenbogen.

Sie liebte gar zu sehr eine Szene.

Dann nahm sie mit einem Blicke Abschied von etwas Unsichtbarem, zog
die Läden ans, und wie mit einem Schlage war das Zimmer ein andres.

Drei Wochen später war Frau Boye verheiratet, und Ricks Lyhne war
sich jetzt allein überlassen. (Fortsetzung folgt )




Litteratur"
Neisebriefe aus Deutschland. Von N. W. Karamsin. Überseht aus dem Russischen
von Hermann Noskoschny. Leipzig, Greßner und Schramm, (1888).

Die Verlagshandlung von Greßner und Schramm in Leipzig giebt seit kurzem
eine "Russische Taschcnbibliothek" heraus, die nach und nach die bedeutendsten
Schriften der frühern wie der gegenwärtigen russischen Schriftsteller -- Romane,
Novellen, Denkwürdigkeiten, Briefwechsel, Reiseskizzen u. f. w. -- in guten Ueber-
hebungen bringen soll. Von den bisher erschienenen zehn Bändchen (a 1 Mk.)
wird die Leser der Grenzboten namentlich das oben genannte siebente Bündchen
interesstren. Der bekannte russische Schriftsteller Karamsin machte, in jungen Jahren
schon von deutscher Bildung durchdrungen und von edelster Begierde erfüllt, sie an der
Quelle aufzusuchen, 1739 und 1790 eine Reise dnrch Deutschland, auf der er unter
anderen in Königsberg, Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar und Frankfurt a. M.
verweilte und mit hervorragenden Männern des damaligen Deutschlands in Be¬
rührung kam. In höchst anmutiger, oft kindlich einfacher, immer aber fesselnder
Erzählung hat er dann seine Reiseerlebnisse aufgezeichnet und veröffentlicht.

Leider entspricht gerade die Bearbeitung dieses Bändchens nicht den Erwartungen,
mit denen man es zur Hand nimmt. Wir möchten nicht etwa, daß diese leicht¬
geschürzten Aufzeichnungen mit einem schwerfälligen "Philologischen Kommentar"


Grenzboten II, 1888. 81
Litteratur.

halbe Empfindungen in der Spur ihrer staunenden Gedanken dahinzogen, Sie
schloß ihre Augen, blieb aber stehen, das Antlitz dem Spiegel zugewendet.

Sonderbar! wie es so über sie gekommen war, diese Angst zum Aufschreien!
Hatte sie geschrieen? Ihr klang ein Schrei in die Ohren, und sie fühlte eine Er¬
mattung im Halse wie nach einem langen, angstvollen Schrei. Wenn er sie an sich
gerissen hätte, hätte sie die Kraft, hätte sie den Willen gehabt, ihn zurückzustoßen?

Sie öffnete langsam ihre Angen und blickte verstohlen lächelnd zu ihrem
Spiegelbilde wie zu einem Mitwisser, mit dem sie sich nicht allzuweit einlassen
dürfe; dann ging sie durchs Zimmer und suchte Handschuhe, Hut und Mantille
zusammen.

Der Schwindel war wie weggeblasen. Die Schwäche, die sie noch immer
in den Gliedern fühlte, war ihr angenehm, und um sie besser zu fühlen, fuhr
sie fort, umherzugehen. Heimlich, gleichsam zufällig, gab sie dem Schaukelstühle
einen kleinen vertraulichen Stoß mit dem Ellenbogen.

Sie liebte gar zu sehr eine Szene.

Dann nahm sie mit einem Blicke Abschied von etwas Unsichtbarem, zog
die Läden ans, und wie mit einem Schlage war das Zimmer ein andres.

Drei Wochen später war Frau Boye verheiratet, und Ricks Lyhne war
sich jetzt allein überlassen. (Fortsetzung folgt )




Litteratur»
Neisebriefe aus Deutschland. Von N. W. Karamsin. Überseht aus dem Russischen
von Hermann Noskoschny. Leipzig, Greßner und Schramm, (1888).

Die Verlagshandlung von Greßner und Schramm in Leipzig giebt seit kurzem
eine „Russische Taschcnbibliothek" heraus, die nach und nach die bedeutendsten
Schriften der frühern wie der gegenwärtigen russischen Schriftsteller — Romane,
Novellen, Denkwürdigkeiten, Briefwechsel, Reiseskizzen u. f. w. — in guten Ueber-
hebungen bringen soll. Von den bisher erschienenen zehn Bändchen (a 1 Mk.)
wird die Leser der Grenzboten namentlich das oben genannte siebente Bündchen
interesstren. Der bekannte russische Schriftsteller Karamsin machte, in jungen Jahren
schon von deutscher Bildung durchdrungen und von edelster Begierde erfüllt, sie an der
Quelle aufzusuchen, 1739 und 1790 eine Reise dnrch Deutschland, auf der er unter
anderen in Königsberg, Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar und Frankfurt a. M.
verweilte und mit hervorragenden Männern des damaligen Deutschlands in Be¬
rührung kam. In höchst anmutiger, oft kindlich einfacher, immer aber fesselnder
Erzählung hat er dann seine Reiseerlebnisse aufgezeichnet und veröffentlicht.

Leider entspricht gerade die Bearbeitung dieses Bändchens nicht den Erwartungen,
mit denen man es zur Hand nimmt. Wir möchten nicht etwa, daß diese leicht¬
geschürzten Aufzeichnungen mit einem schwerfälligen „Philologischen Kommentar"


Grenzboten II, 1888. 81
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[0649] Litteratur. halbe Empfindungen in der Spur ihrer staunenden Gedanken dahinzogen, Sie schloß ihre Augen, blieb aber stehen, das Antlitz dem Spiegel zugewendet. Sonderbar! wie es so über sie gekommen war, diese Angst zum Aufschreien! Hatte sie geschrieen? Ihr klang ein Schrei in die Ohren, und sie fühlte eine Er¬ mattung im Halse wie nach einem langen, angstvollen Schrei. Wenn er sie an sich gerissen hätte, hätte sie die Kraft, hätte sie den Willen gehabt, ihn zurückzustoßen? Sie öffnete langsam ihre Angen und blickte verstohlen lächelnd zu ihrem Spiegelbilde wie zu einem Mitwisser, mit dem sie sich nicht allzuweit einlassen dürfe; dann ging sie durchs Zimmer und suchte Handschuhe, Hut und Mantille zusammen. Der Schwindel war wie weggeblasen. Die Schwäche, die sie noch immer in den Gliedern fühlte, war ihr angenehm, und um sie besser zu fühlen, fuhr sie fort, umherzugehen. Heimlich, gleichsam zufällig, gab sie dem Schaukelstühle einen kleinen vertraulichen Stoß mit dem Ellenbogen. Sie liebte gar zu sehr eine Szene. Dann nahm sie mit einem Blicke Abschied von etwas Unsichtbarem, zog die Läden ans, und wie mit einem Schlage war das Zimmer ein andres. Drei Wochen später war Frau Boye verheiratet, und Ricks Lyhne war sich jetzt allein überlassen. (Fortsetzung folgt ) Litteratur» Neisebriefe aus Deutschland. Von N. W. Karamsin. Überseht aus dem Russischen von Hermann Noskoschny. Leipzig, Greßner und Schramm, (1888). Die Verlagshandlung von Greßner und Schramm in Leipzig giebt seit kurzem eine „Russische Taschcnbibliothek" heraus, die nach und nach die bedeutendsten Schriften der frühern wie der gegenwärtigen russischen Schriftsteller — Romane, Novellen, Denkwürdigkeiten, Briefwechsel, Reiseskizzen u. f. w. — in guten Ueber- hebungen bringen soll. Von den bisher erschienenen zehn Bändchen (a 1 Mk.) wird die Leser der Grenzboten namentlich das oben genannte siebente Bündchen interesstren. Der bekannte russische Schriftsteller Karamsin machte, in jungen Jahren schon von deutscher Bildung durchdrungen und von edelster Begierde erfüllt, sie an der Quelle aufzusuchen, 1739 und 1790 eine Reise dnrch Deutschland, auf der er unter anderen in Königsberg, Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar und Frankfurt a. M. verweilte und mit hervorragenden Männern des damaligen Deutschlands in Be¬ rührung kam. In höchst anmutiger, oft kindlich einfacher, immer aber fesselnder Erzählung hat er dann seine Reiseerlebnisse aufgezeichnet und veröffentlicht. Leider entspricht gerade die Bearbeitung dieses Bändchens nicht den Erwartungen, mit denen man es zur Hand nimmt. Wir möchten nicht etwa, daß diese leicht¬ geschürzten Aufzeichnungen mit einem schwerfälligen „Philologischen Kommentar" Grenzboten II, 1888. 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/649>, abgerufen am 13.11.2024.