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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur.

oder der "Funktion." Das hat das Gute, daß man in den unerläßlichen Zitaten
bloß auf "Wissenschaftliche" verweisen kann, Unwissenschaftliche wie Diesterweg u, a.
haben ja deutsch geredet, die wußten noch nichts von der Stufe der Funktion.
Früher sagte man, beim Unterrichte dürfe man sich nicht mit der bloßen Anschauung,
mit der Feststellung des sinnlich Wahrnehmbaren begnügen, man müsse nach dem
Wie und nach dem Warum fragen, jetzt klingt es viel gelehrter, wenn man von
"empirischem" und "spekulativem Interesse" spricht. Sonst erzog man das Kind
zu einem würdigen Gliede der menschlichen Gesellschaft, Pflegte Nächstenliebe, Ge¬
meinsinn u. s. W., jetzt gilt es, das "sympathetische" und "soziale Interesse" zu be¬
rücksichtigen."

Wir könnten aus der neuern pädagogischen Litteratur noch manche ähnliche
Klage anführen. Wir begnügen uns mit einer. Meyer-Markau schreibt in seiner
Schrift "Fremdwort und Schule": "Möglich, daß die eigentlichen Kunstausdrücke
der Herbartianer nicht verdeutscht werden dürfen, weil damit der "Schulnebel"
schwinden könnte, welcher bisher über dieser geheimnisreichen Schulweisheit lagert."

Wir lassen es dahingestellt sein, ob bezüglich der Gründe jener Gelehrtthuerci
in den hier angeführten Aussprüchen das Richtige getroffen ist, daß die Sache an
sich aber sehr beklagenswert sei, wird jeder Freund der deutschen Sprache zugeben.




Zusatz der Redaktion.

Nach unsern Beobachtungen sind es immer die
jüngsten Wissenschaften, die sich mit besondrer Vorliebe der Fremdwörter bedienen.
Die Vertreter dieser Wissenschaften glauben ganz augenscheinlich, daß sie nur durch
Fremdwörter ihrer Sache den Anstrich der Wissenschaftlichkeit geben können. Wie
lächerlich sie sich in den Augen verständiger Leute damit machen, überlegen sie sich
nicht. Ein paar recht schlagende Beispiele dafür sind außer der Pädagogik auch
die Statistik und die Geschichte des Kunstgewerbes. In der Statistik wird alles
eruirt, konstatirt, kombinirt, modifizirt, verifizirt, identifizirt, konstruirt, rekonstruirt,
repartirt, manche Fragen sind zwar sehr komplizirt, und die Ansichten über die Me¬
thode divergiren, aber einzelne Nüancen oder Exemptionen in den numerischen Ver¬
hältnissen sind ja für das Totalresultat irrelevant. Ebenso redet das Kunstgewerbe
nicht von Töpferei und Weberei, sondern schwatzt unaufhörlich von keramischer
Branche, textiler Branche u. s. w. Als ob eine alte Meißner Kaffeetasse dadurch
zum würdigeren Gegenstande wissenschaftlicher Betrachtung würde, daß man sie ein
Produkt der keramischen Branche nennt!




Litteratur"

Dantes Göttliche Komödie, übersetzt von Otto Gildemeister. Berlin, Wilhelm
Hertz, 1888.

Das hohe Lied des großen Florentiners ist denjenigen Deutschen, welche die
Sprache ovo it si suons. nicht selbst beherrschen, schon in mehreren Uebersetzungen
zugänglich gemacht worden. Kopisch, der Dichter, Maler und Entdecker der blauen
Grotte in Capri, Witte, das "Wunderkind" und der Begründer der deutschen


Litteratur.

oder der »Funktion.« Das hat das Gute, daß man in den unerläßlichen Zitaten
bloß auf „Wissenschaftliche« verweisen kann, Unwissenschaftliche wie Diesterweg u, a.
haben ja deutsch geredet, die wußten noch nichts von der Stufe der Funktion.
Früher sagte man, beim Unterrichte dürfe man sich nicht mit der bloßen Anschauung,
mit der Feststellung des sinnlich Wahrnehmbaren begnügen, man müsse nach dem
Wie und nach dem Warum fragen, jetzt klingt es viel gelehrter, wenn man von
»empirischem« und »spekulativem Interesse« spricht. Sonst erzog man das Kind
zu einem würdigen Gliede der menschlichen Gesellschaft, Pflegte Nächstenliebe, Ge¬
meinsinn u. s. W., jetzt gilt es, das »sympathetische« und »soziale Interesse« zu be¬
rücksichtigen."

Wir könnten aus der neuern pädagogischen Litteratur noch manche ähnliche
Klage anführen. Wir begnügen uns mit einer. Meyer-Markau schreibt in seiner
Schrift „Fremdwort und Schule": „Möglich, daß die eigentlichen Kunstausdrücke
der Herbartianer nicht verdeutscht werden dürfen, weil damit der »Schulnebel«
schwinden könnte, welcher bisher über dieser geheimnisreichen Schulweisheit lagert."

Wir lassen es dahingestellt sein, ob bezüglich der Gründe jener Gelehrtthuerci
in den hier angeführten Aussprüchen das Richtige getroffen ist, daß die Sache an
sich aber sehr beklagenswert sei, wird jeder Freund der deutschen Sprache zugeben.




Zusatz der Redaktion.

Nach unsern Beobachtungen sind es immer die
jüngsten Wissenschaften, die sich mit besondrer Vorliebe der Fremdwörter bedienen.
Die Vertreter dieser Wissenschaften glauben ganz augenscheinlich, daß sie nur durch
Fremdwörter ihrer Sache den Anstrich der Wissenschaftlichkeit geben können. Wie
lächerlich sie sich in den Augen verständiger Leute damit machen, überlegen sie sich
nicht. Ein paar recht schlagende Beispiele dafür sind außer der Pädagogik auch
die Statistik und die Geschichte des Kunstgewerbes. In der Statistik wird alles
eruirt, konstatirt, kombinirt, modifizirt, verifizirt, identifizirt, konstruirt, rekonstruirt,
repartirt, manche Fragen sind zwar sehr komplizirt, und die Ansichten über die Me¬
thode divergiren, aber einzelne Nüancen oder Exemptionen in den numerischen Ver¬
hältnissen sind ja für das Totalresultat irrelevant. Ebenso redet das Kunstgewerbe
nicht von Töpferei und Weberei, sondern schwatzt unaufhörlich von keramischer
Branche, textiler Branche u. s. w. Als ob eine alte Meißner Kaffeetasse dadurch
zum würdigeren Gegenstande wissenschaftlicher Betrachtung würde, daß man sie ein
Produkt der keramischen Branche nennt!




Litteratur»

Dantes Göttliche Komödie, übersetzt von Otto Gildemeister. Berlin, Wilhelm
Hertz, 1888.

Das hohe Lied des großen Florentiners ist denjenigen Deutschen, welche die
Sprache ovo it si suons. nicht selbst beherrschen, schon in mehreren Uebersetzungen
zugänglich gemacht worden. Kopisch, der Dichter, Maler und Entdecker der blauen
Grotte in Capri, Witte, das „Wunderkind" und der Begründer der deutschen


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[0452] Litteratur. oder der »Funktion.« Das hat das Gute, daß man in den unerläßlichen Zitaten bloß auf „Wissenschaftliche« verweisen kann, Unwissenschaftliche wie Diesterweg u, a. haben ja deutsch geredet, die wußten noch nichts von der Stufe der Funktion. Früher sagte man, beim Unterrichte dürfe man sich nicht mit der bloßen Anschauung, mit der Feststellung des sinnlich Wahrnehmbaren begnügen, man müsse nach dem Wie und nach dem Warum fragen, jetzt klingt es viel gelehrter, wenn man von »empirischem« und »spekulativem Interesse« spricht. Sonst erzog man das Kind zu einem würdigen Gliede der menschlichen Gesellschaft, Pflegte Nächstenliebe, Ge¬ meinsinn u. s. W., jetzt gilt es, das »sympathetische« und »soziale Interesse« zu be¬ rücksichtigen." Wir könnten aus der neuern pädagogischen Litteratur noch manche ähnliche Klage anführen. Wir begnügen uns mit einer. Meyer-Markau schreibt in seiner Schrift „Fremdwort und Schule": „Möglich, daß die eigentlichen Kunstausdrücke der Herbartianer nicht verdeutscht werden dürfen, weil damit der »Schulnebel« schwinden könnte, welcher bisher über dieser geheimnisreichen Schulweisheit lagert." Wir lassen es dahingestellt sein, ob bezüglich der Gründe jener Gelehrtthuerci in den hier angeführten Aussprüchen das Richtige getroffen ist, daß die Sache an sich aber sehr beklagenswert sei, wird jeder Freund der deutschen Sprache zugeben. Zusatz der Redaktion. Nach unsern Beobachtungen sind es immer die jüngsten Wissenschaften, die sich mit besondrer Vorliebe der Fremdwörter bedienen. Die Vertreter dieser Wissenschaften glauben ganz augenscheinlich, daß sie nur durch Fremdwörter ihrer Sache den Anstrich der Wissenschaftlichkeit geben können. Wie lächerlich sie sich in den Augen verständiger Leute damit machen, überlegen sie sich nicht. Ein paar recht schlagende Beispiele dafür sind außer der Pädagogik auch die Statistik und die Geschichte des Kunstgewerbes. In der Statistik wird alles eruirt, konstatirt, kombinirt, modifizirt, verifizirt, identifizirt, konstruirt, rekonstruirt, repartirt, manche Fragen sind zwar sehr komplizirt, und die Ansichten über die Me¬ thode divergiren, aber einzelne Nüancen oder Exemptionen in den numerischen Ver¬ hältnissen sind ja für das Totalresultat irrelevant. Ebenso redet das Kunstgewerbe nicht von Töpferei und Weberei, sondern schwatzt unaufhörlich von keramischer Branche, textiler Branche u. s. w. Als ob eine alte Meißner Kaffeetasse dadurch zum würdigeren Gegenstande wissenschaftlicher Betrachtung würde, daß man sie ein Produkt der keramischen Branche nennt! Litteratur» Dantes Göttliche Komödie, übersetzt von Otto Gildemeister. Berlin, Wilhelm Hertz, 1888. Das hohe Lied des großen Florentiners ist denjenigen Deutschen, welche die Sprache ovo it si suons. nicht selbst beherrschen, schon in mehreren Uebersetzungen zugänglich gemacht worden. Kopisch, der Dichter, Maler und Entdecker der blauen Grotte in Capri, Witte, das „Wunderkind" und der Begründer der deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/452>, abgerufen am 13.11.2024.