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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne,

Meeresgrunde, durch trübes Eis gesehen; zerschlage das Eis oder beleuchte das
dunkel Lebende mit dem Licht der Worte, und es wird sich das Gleiche er¬
eignen: das, was du nun sehen und fassen kannst, ist in seiner Klarheit nicht
mehr das Dunkle, das es vorher gewesen ist.




Drittes Aapitel.

Und die Jahre schwanden dahin: ein Weihnachtsfest folgte dem andern,
die Luft noch lange nach dem heiligen Dreikönigstage mit seinem strahlenden
Festglanz erfüllend; eine Pfingstzeit nach der andern lächelte auf die blüten¬
duftenden Frühliugswiesen; Sommer auf Sommer rückte heran, feierte seine
Sonnenscheingelage und schüttete seinen Sommerwein aus vollen Schalen aus,
und dann eines Tages, mit der sinkenden Sonne, lief er davon, und es blieb
nur die Erinnerung zurück, mit den sonnverbrannter Wangen, den verwunderten
Augen und dem erregten Blute.

Und die Jahre schwanden dahin, lind die Welt war nicht mehr die Wunder¬
welt, die sie zuvor gewesen war; in den dunkeln Winkeln hinter den morschen
Hollunderbäumen, in den geheimnisvollen Bodenkammern und in jeuer düstern
Steinkiste am Klastrupwege wohnte nicht mehr das märchenhafte Grauen; und
jener breite Hügel, der beim ersten Lerchenschlag sein Gras unter den purpur-
rändrigcu Sternen der Tausendschönchen und den gelben Glocken der Himmels-
schlüsselchen barg, der Bach mit seinen phantastischen Tier- und Pflanzenschätzen
und die wilden Bergabhänge der Sandgrube mit ihren schwarzen Steinen und
den silbern schimmernden Granitblöcken, das alles waren nur armselige Blumen,
Tiere und Steine; das strahlende Goldhaar der Feen war wieder in Laub ver¬
wandelt.

Ein Spiel nach dem andern war alt und langweilig, dumm und sinnlos
geworden wie die Bilder in der Fibel, und doch waren sie einmal so neu ge¬
wesen, so wunderbar neu!

Dort hatten sie mit dem Leitseil gespielt, Ricks und des Pfarrers Frithjof,
und der Reifen war ein Fahrzeug gewesen, das strandete, sobald er auf die
Seite fiel, ergriff man ihn aber noch rechtzeitig, so warf das Schiff seine Anker
ans. Den schmalen Steig am Meeresufer entlang, der so beschwerlich zu be¬
gehen war, nannten sie Bab el Mandeb oder die Pforte des Todes, aus die
Stallthür hatten sie mit Kreide geschrieben, daß hier England sei, und auf der
Scheunenthür stand: Frankreich; die Gartenpforte war Rio Janeiro und die
Schmiede Brasilien. Sie hatten auch ein Spiel, welches Holger Danske hieß,
das konnten sie zwischen den großen Klettenblättern hinter der Scheune spielen;
aber oben im Felde hinter der Mühle befanden sich mehrere Erdhöhlen, dort
hauste Prinz Beonnaud in höchsteigner Person und seine wilden Sarazenen


Ricks Lyhne,

Meeresgrunde, durch trübes Eis gesehen; zerschlage das Eis oder beleuchte das
dunkel Lebende mit dem Licht der Worte, und es wird sich das Gleiche er¬
eignen: das, was du nun sehen und fassen kannst, ist in seiner Klarheit nicht
mehr das Dunkle, das es vorher gewesen ist.




Drittes Aapitel.

Und die Jahre schwanden dahin: ein Weihnachtsfest folgte dem andern,
die Luft noch lange nach dem heiligen Dreikönigstage mit seinem strahlenden
Festglanz erfüllend; eine Pfingstzeit nach der andern lächelte auf die blüten¬
duftenden Frühliugswiesen; Sommer auf Sommer rückte heran, feierte seine
Sonnenscheingelage und schüttete seinen Sommerwein aus vollen Schalen aus,
und dann eines Tages, mit der sinkenden Sonne, lief er davon, und es blieb
nur die Erinnerung zurück, mit den sonnverbrannter Wangen, den verwunderten
Augen und dem erregten Blute.

Und die Jahre schwanden dahin, lind die Welt war nicht mehr die Wunder¬
welt, die sie zuvor gewesen war; in den dunkeln Winkeln hinter den morschen
Hollunderbäumen, in den geheimnisvollen Bodenkammern und in jeuer düstern
Steinkiste am Klastrupwege wohnte nicht mehr das märchenhafte Grauen; und
jener breite Hügel, der beim ersten Lerchenschlag sein Gras unter den purpur-
rändrigcu Sternen der Tausendschönchen und den gelben Glocken der Himmels-
schlüsselchen barg, der Bach mit seinen phantastischen Tier- und Pflanzenschätzen
und die wilden Bergabhänge der Sandgrube mit ihren schwarzen Steinen und
den silbern schimmernden Granitblöcken, das alles waren nur armselige Blumen,
Tiere und Steine; das strahlende Goldhaar der Feen war wieder in Laub ver¬
wandelt.

Ein Spiel nach dem andern war alt und langweilig, dumm und sinnlos
geworden wie die Bilder in der Fibel, und doch waren sie einmal so neu ge¬
wesen, so wunderbar neu!

Dort hatten sie mit dem Leitseil gespielt, Ricks und des Pfarrers Frithjof,
und der Reifen war ein Fahrzeug gewesen, das strandete, sobald er auf die
Seite fiel, ergriff man ihn aber noch rechtzeitig, so warf das Schiff seine Anker
ans. Den schmalen Steig am Meeresufer entlang, der so beschwerlich zu be¬
gehen war, nannten sie Bab el Mandeb oder die Pforte des Todes, aus die
Stallthür hatten sie mit Kreide geschrieben, daß hier England sei, und auf der
Scheunenthür stand: Frankreich; die Gartenpforte war Rio Janeiro und die
Schmiede Brasilien. Sie hatten auch ein Spiel, welches Holger Danske hieß,
das konnten sie zwischen den großen Klettenblättern hinter der Scheune spielen;
aber oben im Felde hinter der Mühle befanden sich mehrere Erdhöhlen, dort
hauste Prinz Beonnaud in höchsteigner Person und seine wilden Sarazenen


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[0101] Ricks Lyhne, Meeresgrunde, durch trübes Eis gesehen; zerschlage das Eis oder beleuchte das dunkel Lebende mit dem Licht der Worte, und es wird sich das Gleiche er¬ eignen: das, was du nun sehen und fassen kannst, ist in seiner Klarheit nicht mehr das Dunkle, das es vorher gewesen ist. Drittes Aapitel. Und die Jahre schwanden dahin: ein Weihnachtsfest folgte dem andern, die Luft noch lange nach dem heiligen Dreikönigstage mit seinem strahlenden Festglanz erfüllend; eine Pfingstzeit nach der andern lächelte auf die blüten¬ duftenden Frühliugswiesen; Sommer auf Sommer rückte heran, feierte seine Sonnenscheingelage und schüttete seinen Sommerwein aus vollen Schalen aus, und dann eines Tages, mit der sinkenden Sonne, lief er davon, und es blieb nur die Erinnerung zurück, mit den sonnverbrannter Wangen, den verwunderten Augen und dem erregten Blute. Und die Jahre schwanden dahin, lind die Welt war nicht mehr die Wunder¬ welt, die sie zuvor gewesen war; in den dunkeln Winkeln hinter den morschen Hollunderbäumen, in den geheimnisvollen Bodenkammern und in jeuer düstern Steinkiste am Klastrupwege wohnte nicht mehr das märchenhafte Grauen; und jener breite Hügel, der beim ersten Lerchenschlag sein Gras unter den purpur- rändrigcu Sternen der Tausendschönchen und den gelben Glocken der Himmels- schlüsselchen barg, der Bach mit seinen phantastischen Tier- und Pflanzenschätzen und die wilden Bergabhänge der Sandgrube mit ihren schwarzen Steinen und den silbern schimmernden Granitblöcken, das alles waren nur armselige Blumen, Tiere und Steine; das strahlende Goldhaar der Feen war wieder in Laub ver¬ wandelt. Ein Spiel nach dem andern war alt und langweilig, dumm und sinnlos geworden wie die Bilder in der Fibel, und doch waren sie einmal so neu ge¬ wesen, so wunderbar neu! Dort hatten sie mit dem Leitseil gespielt, Ricks und des Pfarrers Frithjof, und der Reifen war ein Fahrzeug gewesen, das strandete, sobald er auf die Seite fiel, ergriff man ihn aber noch rechtzeitig, so warf das Schiff seine Anker ans. Den schmalen Steig am Meeresufer entlang, der so beschwerlich zu be¬ gehen war, nannten sie Bab el Mandeb oder die Pforte des Todes, aus die Stallthür hatten sie mit Kreide geschrieben, daß hier England sei, und auf der Scheunenthür stand: Frankreich; die Gartenpforte war Rio Janeiro und die Schmiede Brasilien. Sie hatten auch ein Spiel, welches Holger Danske hieß, das konnten sie zwischen den großen Klettenblättern hinter der Scheune spielen; aber oben im Felde hinter der Mühle befanden sich mehrere Erdhöhlen, dort hauste Prinz Beonnaud in höchsteigner Person und seine wilden Sarazenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/101>, abgerufen am 13.11.2024.