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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Wiener Romane.

Gramonts Mitteilungen über österreichische Versprechungen sind "Schwindel,"
das berüchtigte Mus oonsiäLrcms ig, og-uso als l^urvs ovinus 1s, irotrs kommt
auf Rechnung eines ungeschickten Konzipicnten. Die Befestigung der Eunslinie
im Sommer 1870 wird mit keinem Worte erwähnt, und auch an das famose
türkische Lottericcmlehen erinnert sich der Verfasser nicht, es müßte denn in
folgendem denkwürdigen Passus mitgemeint sein. Eine Anmerkung zu der
Erzählung von der Teilnahmlosigkeit Wiens bei seinem Sturze beginnt: "Man
hat versucht, den Umschwung mit gewissen mir zur Last gelegten Geldgeschäften
zu erklären. Ich will diesen widrigen Gegenstand nicht ganz unbeachtet lassen.
Denen, welche jene Behauptung aufstellten, ist zunächst vorzuhalten, daß selbst
wenn die angebliche Verschuldung eine wirkliche gewesen wäre, die Schuld der
Dankbarkeit, eine Schuld, die ich nie eingeklagt, zu der man aber bei meinem
Rücktritt, wie ich nachgewiesen habe, massenhaft sich bekannt hat, unter keinen
Umständen damit getilgt werden konnte, gleichwie im Privatleben der Schuldner
nicht durch ein Vergehen des Gläubigers liberirt wird." Daran schließt sich
die Erwähnung, daß in einem Preßprvzesse zu Anfang des Jahres 1871 alle
gegen ihn erhobenen Anklagen "durch die Zeugenaussagen widerlegt" worden
seien, und daß in dem Handschreiben, durch welches er von dem Amte des
Reichskanzlers enthoben wurde, seine selbstlose Hingebung anerkannt werde.

Wir beklagen oft die Armut der deutschen Literatur an Denkwürdigkeiten
solcher Personen, welche wirklich Denkwürdiges erlebt haben. Hier liegt nun
ein solches Werk vor, verfaßt von einem hochbegabten Manne, den das Schicksal
in Stellungen brachte, welche ihm Einblick in das Räderwerk der Politik ge¬
währten und ihm gestatteten, in dasselbe einzugreifen -- und was ist unser
Gewinn? Wir hören vielerlei Klatsch und Tratsch, erfahren Staatsgeheimnisse,
von denen ein Teil hätte Geheimnis bleiben müssen, ein andrer unbeschadet
Geheimnis bleiben können, und dürfen uns schließlich erlauben, zu Oxenstiernas
vielzitirtem Satz eine neue Variante vorzuschlagen: "Du glaubst nicht, welche
Rolle in der Weltregierung kleinliche Gesichtspunkte, kleinliche Zwecke und klein¬
liche Mittel spielen können."




Zwei Wiener Romane.

in letzten Winter sind auch einige Nomandichtungeu an die Öffent¬
lichkeit getreten, die als eine neue Spezies in dieser an Abarten
so reichen Literaturgattuug bezeichnet werden können. Es ist die
Spezies des großstädtischen Romans. In Frankreich, woher
diese Mode kommt, und das literarisch fast nnr durch Paris
vertreten wird, ist der großstädtische, der Pariser Roman längst eingebürgert.


Zwei Wiener Romane.

Gramonts Mitteilungen über österreichische Versprechungen sind „Schwindel,"
das berüchtigte Mus oonsiäLrcms ig, og-uso als l^urvs ovinus 1s, irotrs kommt
auf Rechnung eines ungeschickten Konzipicnten. Die Befestigung der Eunslinie
im Sommer 1870 wird mit keinem Worte erwähnt, und auch an das famose
türkische Lottericcmlehen erinnert sich der Verfasser nicht, es müßte denn in
folgendem denkwürdigen Passus mitgemeint sein. Eine Anmerkung zu der
Erzählung von der Teilnahmlosigkeit Wiens bei seinem Sturze beginnt: „Man
hat versucht, den Umschwung mit gewissen mir zur Last gelegten Geldgeschäften
zu erklären. Ich will diesen widrigen Gegenstand nicht ganz unbeachtet lassen.
Denen, welche jene Behauptung aufstellten, ist zunächst vorzuhalten, daß selbst
wenn die angebliche Verschuldung eine wirkliche gewesen wäre, die Schuld der
Dankbarkeit, eine Schuld, die ich nie eingeklagt, zu der man aber bei meinem
Rücktritt, wie ich nachgewiesen habe, massenhaft sich bekannt hat, unter keinen
Umständen damit getilgt werden konnte, gleichwie im Privatleben der Schuldner
nicht durch ein Vergehen des Gläubigers liberirt wird." Daran schließt sich
die Erwähnung, daß in einem Preßprvzesse zu Anfang des Jahres 1871 alle
gegen ihn erhobenen Anklagen „durch die Zeugenaussagen widerlegt" worden
seien, und daß in dem Handschreiben, durch welches er von dem Amte des
Reichskanzlers enthoben wurde, seine selbstlose Hingebung anerkannt werde.

Wir beklagen oft die Armut der deutschen Literatur an Denkwürdigkeiten
solcher Personen, welche wirklich Denkwürdiges erlebt haben. Hier liegt nun
ein solches Werk vor, verfaßt von einem hochbegabten Manne, den das Schicksal
in Stellungen brachte, welche ihm Einblick in das Räderwerk der Politik ge¬
währten und ihm gestatteten, in dasselbe einzugreifen — und was ist unser
Gewinn? Wir hören vielerlei Klatsch und Tratsch, erfahren Staatsgeheimnisse,
von denen ein Teil hätte Geheimnis bleiben müssen, ein andrer unbeschadet
Geheimnis bleiben können, und dürfen uns schließlich erlauben, zu Oxenstiernas
vielzitirtem Satz eine neue Variante vorzuschlagen: „Du glaubst nicht, welche
Rolle in der Weltregierung kleinliche Gesichtspunkte, kleinliche Zwecke und klein¬
liche Mittel spielen können."




Zwei Wiener Romane.

in letzten Winter sind auch einige Nomandichtungeu an die Öffent¬
lichkeit getreten, die als eine neue Spezies in dieser an Abarten
so reichen Literaturgattuug bezeichnet werden können. Es ist die
Spezies des großstädtischen Romans. In Frankreich, woher
diese Mode kommt, und das literarisch fast nnr durch Paris
vertreten wird, ist der großstädtische, der Pariser Roman längst eingebürgert.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/40>, abgerufen am 17.09.2024.