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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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uns halbwüchsigen Knaben das Lachen dabei ankam, so mußte dies jeder Ver¬
nünftige entschuldbar finden.

Und nun neben diesem ewig beweglichen Alten seine würdige Ehegattin in
großblumigen, brokatcnem Kleide, weitbauschig, schleppend, mit spitzer Schneppe,
als sei es von einem Kleidcrkünstler zur Zeit der Pompadour verfertigt worden!
Hagere, lange, bräunliche Hände hingen ans feingekräuselten Manschetten und be¬
wegten sich wie im Takt, wenn sie sprach. Das Merkwindigste aber an dieser
alten Dame, der ich schaudernd die knöcherne Hand mit den hochliegenden blauen
Adern küssen mußte, waren ihre tief im Kopfe liegenden Angen. Diese mochten
vor zwei Menschenaltern schon ihrer seltenen Größe wegen schön gewesen sein,
jetzt aber setzten sie wenigstens mich entweder in Schrecken oder reizten durch
ihr Rollen meine Lachlust. Ich konnte dieser ehrwürdigen Matrone mich nicht
nähern, ohne beim Gewahren ihrer Augen an Feuerräder zu denken, vor deren
sprühenden Funken man auf der Hut sein müsse.

Schnell, nur zu schnell verflossen die wenigen Tage unsers Aufenthalts
bei den uns so freundlich entgegenkommenden Verwandten, und ungern trennten
wir uns von ihnen. Der Rückweg zu Fuß, der bei Beginn der Reise vom
Vater in Aussicht genommen war, ward im Hinblick auf das Erlebte aufge¬
geben. Der Onkel verschaffte uns nicht ohne Mühe ein Fuhrwerk, das uns
denn auch glücklich in die Heimat beförderte. (Fortsetzung folgt.)




Kleinere Mitteilungen.
Die Lage der lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen Ru߬
lands.

Schon vielfach ist in kirchlichen und Politischen Blättern Deutschlands
von dem religiösen Druck geredet worden, der gegenwärtig in den seit Luthers
erstem Auftreten gut protestantischen Landen Liv-, Esth- und Kurland geübt wird.
Aber immer vou neuem ist es wünschenswert, die Gedanken aller, die ein Herz
für das Gedeihen der lutherischen Kirche haben, auf die nicht ablassende Bedrängnis
und die schwere Gewissensnot zu richten, der vor allem die Geistlichen, zum Teil
aber auch die übrigen Glieder der Kirche dort unterliegen.

Mit schneidendem Hohn beruft fich die russische Negierung und Presse darauf,
daß in den Ostseeprovinzen ja nichts weiter geschehe als die Aufrechterhaltung und
Durchführung der Reichsgesetze, daß vou den Bewohnern der Ostseeprovinzen ja
nichts weiter gefordert werde, als der selbstverständliche Gehorsam gegen diese
Gesetze; allein es wird dabei verschwiegen, daß diese Gesetze mit der freien Aus¬
übung der kirchlichen Funktionen im Widerspruch stehen, und daß die Befreiung
der lutherischen Kirche in den Provinzen von der Giltigkeit jener Vorschriften
feierlich durch öffentliche und rechtliche Akte der russischen Kaiser, bei Erwerbung
der Provinzen und später, zugesichert wordeu ist. Die kirchliche Gesetzgebung Ru߬
lands ist ein Unikum in dem gegenwärtigen kirchlichen Staatenshstcm. Diese Gesetz¬
gebung kennt keinen Uebertritt von der griechischen zu einer andern Konfession,


uns halbwüchsigen Knaben das Lachen dabei ankam, so mußte dies jeder Ver¬
nünftige entschuldbar finden.

Und nun neben diesem ewig beweglichen Alten seine würdige Ehegattin in
großblumigen, brokatcnem Kleide, weitbauschig, schleppend, mit spitzer Schneppe,
als sei es von einem Kleidcrkünstler zur Zeit der Pompadour verfertigt worden!
Hagere, lange, bräunliche Hände hingen ans feingekräuselten Manschetten und be¬
wegten sich wie im Takt, wenn sie sprach. Das Merkwindigste aber an dieser
alten Dame, der ich schaudernd die knöcherne Hand mit den hochliegenden blauen
Adern küssen mußte, waren ihre tief im Kopfe liegenden Angen. Diese mochten
vor zwei Menschenaltern schon ihrer seltenen Größe wegen schön gewesen sein,
jetzt aber setzten sie wenigstens mich entweder in Schrecken oder reizten durch
ihr Rollen meine Lachlust. Ich konnte dieser ehrwürdigen Matrone mich nicht
nähern, ohne beim Gewahren ihrer Augen an Feuerräder zu denken, vor deren
sprühenden Funken man auf der Hut sein müsse.

Schnell, nur zu schnell verflossen die wenigen Tage unsers Aufenthalts
bei den uns so freundlich entgegenkommenden Verwandten, und ungern trennten
wir uns von ihnen. Der Rückweg zu Fuß, der bei Beginn der Reise vom
Vater in Aussicht genommen war, ward im Hinblick auf das Erlebte aufge¬
geben. Der Onkel verschaffte uns nicht ohne Mühe ein Fuhrwerk, das uns
denn auch glücklich in die Heimat beförderte. (Fortsetzung folgt.)




Kleinere Mitteilungen.
Die Lage der lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen Ru߬
lands.

Schon vielfach ist in kirchlichen und Politischen Blättern Deutschlands
von dem religiösen Druck geredet worden, der gegenwärtig in den seit Luthers
erstem Auftreten gut protestantischen Landen Liv-, Esth- und Kurland geübt wird.
Aber immer vou neuem ist es wünschenswert, die Gedanken aller, die ein Herz
für das Gedeihen der lutherischen Kirche haben, auf die nicht ablassende Bedrängnis
und die schwere Gewissensnot zu richten, der vor allem die Geistlichen, zum Teil
aber auch die übrigen Glieder der Kirche dort unterliegen.

Mit schneidendem Hohn beruft fich die russische Negierung und Presse darauf,
daß in den Ostseeprovinzen ja nichts weiter geschehe als die Aufrechterhaltung und
Durchführung der Reichsgesetze, daß vou den Bewohnern der Ostseeprovinzen ja
nichts weiter gefordert werde, als der selbstverständliche Gehorsam gegen diese
Gesetze; allein es wird dabei verschwiegen, daß diese Gesetze mit der freien Aus¬
übung der kirchlichen Funktionen im Widerspruch stehen, und daß die Befreiung
der lutherischen Kirche in den Provinzen von der Giltigkeit jener Vorschriften
feierlich durch öffentliche und rechtliche Akte der russischen Kaiser, bei Erwerbung
der Provinzen und später, zugesichert wordeu ist. Die kirchliche Gesetzgebung Ru߬
lands ist ein Unikum in dem gegenwärtigen kirchlichen Staatenshstcm. Diese Gesetz¬
gebung kennt keinen Uebertritt von der griechischen zu einer andern Konfession,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/661>, abgerufen am 29.06.2024.