Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Iwan Gontscharow. und unsre Übersetzungen haben ihre Moden. Vor kurzem war Iwan Gontscharow. und unsre Übersetzungen haben ihre Moden. Vor kurzem war <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0432" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197166"/> </div> <div n="1"> <head> Iwan Gontscharow.</head><lb/> <p xml:id="ID_1401" next="#ID_1402"> und unsre Übersetzungen haben ihre Moden. Vor kurzem war<lb/> noch der Büchermarkt mit Übersetzungen aus dem Norwegischen<lb/> überschwemmt, die Dichtungen Björnsons hatten diese Mode in-<lb/> augnrirt. Jetzt sind die Russen an der Reihe, und da lenkte<lb/> zuerst Turgenjew die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Beide<lb/> male konnte man mit der Thätigkeit der Übersetzer einverstanden sein. Es ist<lb/> das große Verdienst bedeutender Dichter, daß sie die Grenzen der Nationalität<lb/> durchbrechen und durch ihre hohe Kunst die Völker einander nähern. Nichts ist<lb/> dazu mehr geeignet als die Poesie, welche unter allen äußern Hüllen und<lb/> Formen der verschiednen Zeiten und Kulturen immer und überall die reine<lb/> menschliche Natur sucht. Die großen Dichter durchbrechen die Schranken der<lb/> Vorurteile und offenbaren die Einheit der Menschheit. Indem sie aber ein<lb/> Interesse für ihr uns bisher fremdes Volk erwecken, schaffen sie auch ihren<lb/> andern literarischen Zeitgenossen Bahn, die Sterne zweiter Größe werden auch<lb/> übersetzt, wir interessiren uns wie dort für die Kielland, die Elster, die Ibsen,<lb/> so hier für die Dostojewsky, die Tolstoi, die Gontscharow. Mehr noch: sie<lb/> beeinflussen unsre eigne Produktion, und dieser Invasion kann man nicht immer<lb/> froh zuschauen. Wenn ein so gesundes und uns stammverwandtes dichterisches<lb/> Naturell, wie das eines Björnson, nachgeahmt wird, so wird man keine Ein¬<lb/> wendungen dagegen erhebe«. Wir würden uns zu einem so pvesiedurchtränkten<lb/> Realismus, der es wagen darf, Probleme der unmittelbarsten Gegenwart dar¬<lb/> zustellen und auf die Mitwirkung der idealisirenden Ferne der Zeit und Geschichte<lb/> im Vollbcwnßtsein der eignen dichterischen Kraft zu verzichten, nur Glück wünschen.<lb/> Wenn aber ein Turgenjew, wie es leider geschieht, nachgeahmt wird, wobei das<lb/> Unnachcchmbare: die einzig dastehende Meisterschaft, in der Form natürlich aus¬<lb/> bleibt, dafür aber der trostlose Pessimismus, die gebrochnen, gallertartigen<lb/> Charaktere zu grassiren beginnen, so ist dieser Einfluß der Übersetzungen auf<lb/> unsre Literatur schon minder erfreulich. Die russischen Dichter der neuesten<lb/> Zeit sind — mit etwaiger Ausnahme Tolstois, der auch der gesündeste ist — samt<lb/> und sonders Satiriker, Die Satire aber merkt doch nur das eigne Volk, weil<lb/> es sich von ihr getroffen fühlt, der uneingeweihte Ausländer hält sich einfach<lb/> an die poetische Seite, Was in des Dichters Heimat mit dem Gefühl der<lb/> reformatorischen Tendenz gelesen wird und also seine Ergänzung zur Bewußtsein<lb/> der Gesundheit erfährt, das wird bei uus ohne diese Korrektur gelesen; denn<lb/> man vergesst nicht, daß Novellen und Romane nicht zum Studium eines<lb/> Nationalcharakters, sondern zunächst zur Unterhaltung gelesen werden. Je mehr</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0432]
Iwan Gontscharow.
und unsre Übersetzungen haben ihre Moden. Vor kurzem war
noch der Büchermarkt mit Übersetzungen aus dem Norwegischen
überschwemmt, die Dichtungen Björnsons hatten diese Mode in-
augnrirt. Jetzt sind die Russen an der Reihe, und da lenkte
zuerst Turgenjew die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Beide
male konnte man mit der Thätigkeit der Übersetzer einverstanden sein. Es ist
das große Verdienst bedeutender Dichter, daß sie die Grenzen der Nationalität
durchbrechen und durch ihre hohe Kunst die Völker einander nähern. Nichts ist
dazu mehr geeignet als die Poesie, welche unter allen äußern Hüllen und
Formen der verschiednen Zeiten und Kulturen immer und überall die reine
menschliche Natur sucht. Die großen Dichter durchbrechen die Schranken der
Vorurteile und offenbaren die Einheit der Menschheit. Indem sie aber ein
Interesse für ihr uns bisher fremdes Volk erwecken, schaffen sie auch ihren
andern literarischen Zeitgenossen Bahn, die Sterne zweiter Größe werden auch
übersetzt, wir interessiren uns wie dort für die Kielland, die Elster, die Ibsen,
so hier für die Dostojewsky, die Tolstoi, die Gontscharow. Mehr noch: sie
beeinflussen unsre eigne Produktion, und dieser Invasion kann man nicht immer
froh zuschauen. Wenn ein so gesundes und uns stammverwandtes dichterisches
Naturell, wie das eines Björnson, nachgeahmt wird, so wird man keine Ein¬
wendungen dagegen erhebe«. Wir würden uns zu einem so pvesiedurchtränkten
Realismus, der es wagen darf, Probleme der unmittelbarsten Gegenwart dar¬
zustellen und auf die Mitwirkung der idealisirenden Ferne der Zeit und Geschichte
im Vollbcwnßtsein der eignen dichterischen Kraft zu verzichten, nur Glück wünschen.
Wenn aber ein Turgenjew, wie es leider geschieht, nachgeahmt wird, wobei das
Unnachcchmbare: die einzig dastehende Meisterschaft, in der Form natürlich aus¬
bleibt, dafür aber der trostlose Pessimismus, die gebrochnen, gallertartigen
Charaktere zu grassiren beginnen, so ist dieser Einfluß der Übersetzungen auf
unsre Literatur schon minder erfreulich. Die russischen Dichter der neuesten
Zeit sind — mit etwaiger Ausnahme Tolstois, der auch der gesündeste ist — samt
und sonders Satiriker, Die Satire aber merkt doch nur das eigne Volk, weil
es sich von ihr getroffen fühlt, der uneingeweihte Ausländer hält sich einfach
an die poetische Seite, Was in des Dichters Heimat mit dem Gefühl der
reformatorischen Tendenz gelesen wird und also seine Ergänzung zur Bewußtsein
der Gesundheit erfährt, das wird bei uus ohne diese Korrektur gelesen; denn
man vergesst nicht, daß Novellen und Romane nicht zum Studium eines
Nationalcharakters, sondern zunächst zur Unterhaltung gelesen werden. Je mehr
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