Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. Neuntes Aapitel. In dieser Zeit des Fürsichseins waren ihm die Worte Ediths über Vroni Gegen Ende Mai machte er wieder nach langer Zeit seinen ersten Besuch Zum erstenmale seit dem Kriege war es den Bemühungen einer hohen kunst¬ Grmzbvwi IV. 1885, 50
Auf dem Stilfser Joch. Neuntes Aapitel. In dieser Zeit des Fürsichseins waren ihm die Worte Ediths über Vroni Gegen Ende Mai machte er wieder nach langer Zeit seinen ersten Besuch Zum erstenmale seit dem Kriege war es den Bemühungen einer hohen kunst¬ Grmzbvwi IV. 1885, 50
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Auf dem Stilfser Joch.
Neuntes Aapitel.
In dieser Zeit des Fürsichseins waren ihm die Worte Ediths über Vroni
nicht aus dem Gedächtnis gekommen, und er mühte sich vergeblich ab, eine Er¬
klärung für diese leidenschaftliche Abneigung seiner sanften Schwester zu finden.
Wäre es kindische Eifersucht gewesen, welche das Mädchen beherrschte und es
fürchten ließ, daß Vroni ihm einst den geliebten Bruder entziehen konnte, so
hätten diese Worte nicht angesichts des Todes und im vollen Bewußtsein an
das bevorstehende Ende gesprochen werden können. Und er bedachte weiter, wie
oft er Gelegenheit gehabt hatte, das feine Gefühl der Schwester zu erproben, wie
sie ihm nicht selten mit jenem prophetischen Blick begabt erschienen war, den schon
Tacitus mit bewunderndem Staunen von den germanischen Jungfrauen und
Frauen zu preisen wußte. Harald war es angenehm gewesen, daß Vroni Ediths
Leichenbegängnis nicht beiwohnen konnte; eine plötzliche Erkrankung ihres Vaters,
die zwar nach einigen Tagen gehoben war, in der ersten Zeit jedoch die Besorgnis
einer hereinbrechenden Apoplexie rege gemacht hatte, hielt sie an das Haus fest
gebannt; aber sie hatte ihm doch einen so innigen Brief geschrieben, daß er tief
davon berührt wurde und nur zu leicht geneigt war, die Warnung Ediths als
das Ergebnis einer krankhaften Phantasie zu betrachten.
Gegen Ende Mai machte er wieder nach langer Zeit seinen ersten Besuch
bei Keller; er fand bei dem Vater die frühere freundliche Aufnahme und den
herzlichsten Empfang. Viel befangener trat ihm Vroni entgegen, die, wie er
wohl merkte, eine innere Unruhe nicht verbergen konnte, das Gespräch oft unter¬
brach, bald aufstand, bald in die andre Stube ging, um dieses und jenes zu
besorgen, fortwährend nach der Uhr sah, sodaß Harald eigentlich nicht recht wußte,
ob er bleiben oder gehen sollte. Da aber die zehnte Stunde inzwischen vorüber¬
gegangen war und er nicht annehmen konnte, daß noch Besuch eintreffen würde,
so wandte sich Harald mehr dem Vater zu, dem er seine neue Einrichtung und
wie sich sei,, Leben nunmehr anch äußerlich für ihn vollziehen würde, beschreiben
mußte. Bald nach halb elf Uhr schellte es, und ohne Anmeldung traten drei
Herren und eine Dame ein, welche von Vroni bald in französischer, bald in
italienischer Sprache begrüßt wurden. Bei der gegenseitigen Vorstellung hörte
Harald zwar die Namen der Erschienenen, aber nur der eine war für ihn von
Interesse, da er seit Wochen in allen Berliner Zeitungen zu lesen und in allen
Zirkeln der Residenz zu hören war; es war dies der berühmte Schauspieler
Lenormcmt.
Zum erstenmale seit dem Kriege war es den Bemühungen einer hohen kunst¬
sinnigen Frau gelungen, wie sonst alljährlich im Winter, eine französische Truppe
zu Vorstellungen zu gewinnen. Aber es waren die Mitglieder, nicht wie in
frühern Jahren echte Kinder Galliens, sondern Abzweigungen einer Turiner
Theatergesellschaft, welche in der ehemaligen Hauptstadt des neuen Italiens bald
Grmzbvwi IV. 1885, 50
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