Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gebrechen der heutigen Bühne.

le Klagen über den Verfall der Bühne haben sich in letzter Zeit
sehr vermehrt. Besonders von Wien aus -- ich verweise dafür
nur auf Schlögls Buch "Vom Wiener Volkstheater" und auf
die kürzlich erschienene Flugschrift "Wien war eine Theaterstadt" --
sind darüber sehr eindringliche Klagelieder angestimmt worden.
Sie haben aber auch bei uns ihr Echo gefunden, obschon es weder hier noch
dort an Stimmen gebricht, welche versichern, daß die Klagen über den Verfall
der Bühne so alt wie die Bühne selbst seien, Ist diese Abfertigung aber nicht
auch wieder so alt wie die Klagen? Wahr ist ja doch, daß das Theater un¬
möglich das Vorrecht hat, dem Wechsel aller irdischen Dinge nicht unterworfen
zu sein, Wohl mögen Veränderungen, wären sie noch so wohlthätig, niemals
von denen mit Befriedigung aufgenommen werden, welche aus Grundsatz, Ge¬
wohnheit, Interesse an dem früherei? Zustande hängen. Andrerseits wird aber
selbst noch das beste, was eine Veränderung mit sich bringt, anch wieder mit
Nachteilen und Einbußen verbunden sein und nicht bei allen Veränderungen der
Gewinn den Verlust überwiegen.

Selten hat eine Bühne in so kurzer Zeit so große Veränderungen erfahren,
wie die deutsche seit der Mitte dieses Jahrhunderts. Auffälliger zwar mögen
diejenigen sein, welche im vorigen Jahrhundert die Verwandlung der Wander¬
bühnen in feststehende Theater, die der fürstlichen Privatbühnen in öffentliche,
aber privilegirte Hoftheater herbeiführten. Allein diese Veränderungen vollzogen
sich in den verschiednen Teilen des Reiches ganz allmählich. Die Veränderungen
aber, deren Zeugen wir selbst gewesen sind, konnten sich bei der außerordentlichen
Entwicklung des Verkehrs ungleich rascher vollziehen lind verbreite", wobei sie in
ungleich umfassenderer Weise unter deu gleichzeitigen Einflüssen mächtiger Ver¬
änderungen ans den übrigen Gebieten des Kulturlebens standen. Es sei nur
des Aufschwunges der technischen, mechanischen und Naturwissenschaften und der
damit zusammenhängenden Entwicklung einer ganz neuen Lebens- und Welt¬
anschauung gedacht, sowie der Entfesselung des Spekulativns- und Erfindnngs-
geistcs, welche mit ihren Krisen einen ungeheuern Besitzwechsel bewirkten und an
die Stelle der alten Gesellschaft eine zum Teil neue mit ganz andern
Lebensgewohnheiten, Sitten und Bildungsinteressen brachten, die Entwicklung
der Künste, besonders der Malerei sowie der Kunstgewerbe begünstigten, doch
auch die erschreckende" Gegensätze von Pauperismus und Luxus, von Genußsucht
und Prostitution hervorriefen.


Die Gebrechen der heutigen Bühne.

le Klagen über den Verfall der Bühne haben sich in letzter Zeit
sehr vermehrt. Besonders von Wien aus — ich verweise dafür
nur auf Schlögls Buch „Vom Wiener Volkstheater" und auf
die kürzlich erschienene Flugschrift „Wien war eine Theaterstadt" —
sind darüber sehr eindringliche Klagelieder angestimmt worden.
Sie haben aber auch bei uns ihr Echo gefunden, obschon es weder hier noch
dort an Stimmen gebricht, welche versichern, daß die Klagen über den Verfall
der Bühne so alt wie die Bühne selbst seien, Ist diese Abfertigung aber nicht
auch wieder so alt wie die Klagen? Wahr ist ja doch, daß das Theater un¬
möglich das Vorrecht hat, dem Wechsel aller irdischen Dinge nicht unterworfen
zu sein, Wohl mögen Veränderungen, wären sie noch so wohlthätig, niemals
von denen mit Befriedigung aufgenommen werden, welche aus Grundsatz, Ge¬
wohnheit, Interesse an dem früherei? Zustande hängen. Andrerseits wird aber
selbst noch das beste, was eine Veränderung mit sich bringt, anch wieder mit
Nachteilen und Einbußen verbunden sein und nicht bei allen Veränderungen der
Gewinn den Verlust überwiegen.

Selten hat eine Bühne in so kurzer Zeit so große Veränderungen erfahren,
wie die deutsche seit der Mitte dieses Jahrhunderts. Auffälliger zwar mögen
diejenigen sein, welche im vorigen Jahrhundert die Verwandlung der Wander¬
bühnen in feststehende Theater, die der fürstlichen Privatbühnen in öffentliche,
aber privilegirte Hoftheater herbeiführten. Allein diese Veränderungen vollzogen
sich in den verschiednen Teilen des Reiches ganz allmählich. Die Veränderungen
aber, deren Zeugen wir selbst gewesen sind, konnten sich bei der außerordentlichen
Entwicklung des Verkehrs ungleich rascher vollziehen lind verbreite», wobei sie in
ungleich umfassenderer Weise unter deu gleichzeitigen Einflüssen mächtiger Ver¬
änderungen ans den übrigen Gebieten des Kulturlebens standen. Es sei nur
des Aufschwunges der technischen, mechanischen und Naturwissenschaften und der
damit zusammenhängenden Entwicklung einer ganz neuen Lebens- und Welt¬
anschauung gedacht, sowie der Entfesselung des Spekulativns- und Erfindnngs-
geistcs, welche mit ihren Krisen einen ungeheuern Besitzwechsel bewirkten und an
die Stelle der alten Gesellschaft eine zum Teil neue mit ganz andern
Lebensgewohnheiten, Sitten und Bildungsinteressen brachten, die Entwicklung
der Künste, besonders der Malerei sowie der Kunstgewerbe begünstigten, doch
auch die erschreckende« Gegensätze von Pauperismus und Luxus, von Genußsucht
und Prostitution hervorriefen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195477"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Gebrechen der heutigen Bühne.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_286"> le Klagen über den Verfall der Bühne haben sich in letzter Zeit<lb/>
sehr vermehrt. Besonders von Wien aus &#x2014; ich verweise dafür<lb/>
nur auf Schlögls Buch &#x201E;Vom Wiener Volkstheater" und auf<lb/>
die kürzlich erschienene Flugschrift &#x201E;Wien war eine Theaterstadt" &#x2014;<lb/>
sind darüber sehr eindringliche Klagelieder angestimmt worden.<lb/>
Sie haben aber auch bei uns ihr Echo gefunden, obschon es weder hier noch<lb/>
dort an Stimmen gebricht, welche versichern, daß die Klagen über den Verfall<lb/>
der Bühne so alt wie die Bühne selbst seien, Ist diese Abfertigung aber nicht<lb/>
auch wieder so alt wie die Klagen? Wahr ist ja doch, daß das Theater un¬<lb/>
möglich das Vorrecht hat, dem Wechsel aller irdischen Dinge nicht unterworfen<lb/>
zu sein, Wohl mögen Veränderungen, wären sie noch so wohlthätig, niemals<lb/>
von denen mit Befriedigung aufgenommen werden, welche aus Grundsatz, Ge¬<lb/>
wohnheit, Interesse an dem früherei? Zustande hängen. Andrerseits wird aber<lb/>
selbst noch das beste, was eine Veränderung mit sich bringt, anch wieder mit<lb/>
Nachteilen und Einbußen verbunden sein und nicht bei allen Veränderungen der<lb/>
Gewinn den Verlust überwiegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_287"> Selten hat eine Bühne in so kurzer Zeit so große Veränderungen erfahren,<lb/>
wie die deutsche seit der Mitte dieses Jahrhunderts. Auffälliger zwar mögen<lb/>
diejenigen sein, welche im vorigen Jahrhundert die Verwandlung der Wander¬<lb/>
bühnen in feststehende Theater, die der fürstlichen Privatbühnen in öffentliche,<lb/>
aber privilegirte Hoftheater herbeiführten. Allein diese Veränderungen vollzogen<lb/>
sich in den verschiednen Teilen des Reiches ganz allmählich. Die Veränderungen<lb/>
aber, deren Zeugen wir selbst gewesen sind, konnten sich bei der außerordentlichen<lb/>
Entwicklung des Verkehrs ungleich rascher vollziehen lind verbreite», wobei sie in<lb/>
ungleich umfassenderer Weise unter deu gleichzeitigen Einflüssen mächtiger Ver¬<lb/>
änderungen ans den übrigen Gebieten des Kulturlebens standen. Es sei nur<lb/>
des Aufschwunges der technischen, mechanischen und Naturwissenschaften und der<lb/>
damit zusammenhängenden Entwicklung einer ganz neuen Lebens- und Welt¬<lb/>
anschauung gedacht, sowie der Entfesselung des Spekulativns- und Erfindnngs-<lb/>
geistcs, welche mit ihren Krisen einen ungeheuern Besitzwechsel bewirkten und an<lb/>
die Stelle der alten Gesellschaft eine zum Teil neue mit ganz andern<lb/>
Lebensgewohnheiten, Sitten und Bildungsinteressen brachten, die Entwicklung<lb/>
der Künste, besonders der Malerei sowie der Kunstgewerbe begünstigten, doch<lb/>
auch die erschreckende« Gegensätze von Pauperismus und Luxus, von Genußsucht<lb/>
und Prostitution hervorriefen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] Die Gebrechen der heutigen Bühne. le Klagen über den Verfall der Bühne haben sich in letzter Zeit sehr vermehrt. Besonders von Wien aus — ich verweise dafür nur auf Schlögls Buch „Vom Wiener Volkstheater" und auf die kürzlich erschienene Flugschrift „Wien war eine Theaterstadt" — sind darüber sehr eindringliche Klagelieder angestimmt worden. Sie haben aber auch bei uns ihr Echo gefunden, obschon es weder hier noch dort an Stimmen gebricht, welche versichern, daß die Klagen über den Verfall der Bühne so alt wie die Bühne selbst seien, Ist diese Abfertigung aber nicht auch wieder so alt wie die Klagen? Wahr ist ja doch, daß das Theater un¬ möglich das Vorrecht hat, dem Wechsel aller irdischen Dinge nicht unterworfen zu sein, Wohl mögen Veränderungen, wären sie noch so wohlthätig, niemals von denen mit Befriedigung aufgenommen werden, welche aus Grundsatz, Ge¬ wohnheit, Interesse an dem früherei? Zustande hängen. Andrerseits wird aber selbst noch das beste, was eine Veränderung mit sich bringt, anch wieder mit Nachteilen und Einbußen verbunden sein und nicht bei allen Veränderungen der Gewinn den Verlust überwiegen. Selten hat eine Bühne in so kurzer Zeit so große Veränderungen erfahren, wie die deutsche seit der Mitte dieses Jahrhunderts. Auffälliger zwar mögen diejenigen sein, welche im vorigen Jahrhundert die Verwandlung der Wander¬ bühnen in feststehende Theater, die der fürstlichen Privatbühnen in öffentliche, aber privilegirte Hoftheater herbeiführten. Allein diese Veränderungen vollzogen sich in den verschiednen Teilen des Reiches ganz allmählich. Die Veränderungen aber, deren Zeugen wir selbst gewesen sind, konnten sich bei der außerordentlichen Entwicklung des Verkehrs ungleich rascher vollziehen lind verbreite», wobei sie in ungleich umfassenderer Weise unter deu gleichzeitigen Einflüssen mächtiger Ver¬ änderungen ans den übrigen Gebieten des Kulturlebens standen. Es sei nur des Aufschwunges der technischen, mechanischen und Naturwissenschaften und der damit zusammenhängenden Entwicklung einer ganz neuen Lebens- und Welt¬ anschauung gedacht, sowie der Entfesselung des Spekulativns- und Erfindnngs- geistcs, welche mit ihren Krisen einen ungeheuern Besitzwechsel bewirkten und an die Stelle der alten Gesellschaft eine zum Teil neue mit ganz andern Lebensgewohnheiten, Sitten und Bildungsinteressen brachten, die Entwicklung der Künste, besonders der Malerei sowie der Kunstgewerbe begünstigten, doch auch die erschreckende« Gegensätze von Pauperismus und Luxus, von Genußsucht und Prostitution hervorriefen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/88>, abgerufen am 22.07.2024.