Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Der Weg nach Indien.

le auswärtige Politik Englands ist zu allen Zeiten von gewissen
Devisen und Schlagwörtern beherrscht worden. Gegenwärtig sehen
wir dort zwei Strömungen hervortreten, von denen jede eine
Phrase an der Spitze ihres Programms tragt: die Politik der
"reinen Hände" des manchcsterlichcn Herrn Gladstone und das
chauvinistische "Greater Britain" des radikalen Sir Charles Dilke. Dagegen
ist eine andre Beschwörungsformel ans dem Handbuche der englischen Diplo¬
matie gestrichen, welche Dezennien lang für die internationalen Beziehungen des
britischen Kabinets bestimmend war: die bekannte Phrase, daß der Weg nach
Indien über Konstantinopel führe und der Besitz der türkischen Meerengen ma߬
gebend sei für die Sicherheit des größten britischen Kolonialgcbietes. Obgleich
zu keiner Zeit -- seitdem England in den Besitz Vorderindiens gelangt ist --
die Verbindung dieser beiden Ländergebiete über Kvnstmitinvpel geführt hat, so
war doch die obige Formel eine Art von Glaubenssatz der britischen Staats¬
männer beider Parteien. Wie die Parole eines Wachtpostens wurde sie von
dem abtretenden Teile an den einrückenden überliefert. Niemand prüfte sie auf
ihre innere Wahrheit. Bei der Vorliebe der älteren europäischen Diplomatie
für Scntcnzenwesen und Tradition ist dies weniger anffallend als der Umstand,
daß sich ein geographischer und politischer Nonsens selbst dann noch erhalten
hat, als dem Wege nach Indien durch die Eröffnung des Suezkanals bereits
eine bestimmte, unverrückbare Straße gezogen war. Ungeachtet dieser Thatsache
wurde die abgedroschene Phrase, daß Konstantinopel den Schlüssel für Indien
besitze, noch in der Konferenz von 1877 von dein damaligen Torhministerium
aufrecht erhalte". Sie führte während des türkisch-russischen Krieges zur Ent-


Grenzbvten I. 188S. 75


Der Weg nach Indien.

le auswärtige Politik Englands ist zu allen Zeiten von gewissen
Devisen und Schlagwörtern beherrscht worden. Gegenwärtig sehen
wir dort zwei Strömungen hervortreten, von denen jede eine
Phrase an der Spitze ihres Programms tragt: die Politik der
„reinen Hände" des manchcsterlichcn Herrn Gladstone und das
chauvinistische „Greater Britain" des radikalen Sir Charles Dilke. Dagegen
ist eine andre Beschwörungsformel ans dem Handbuche der englischen Diplo¬
matie gestrichen, welche Dezennien lang für die internationalen Beziehungen des
britischen Kabinets bestimmend war: die bekannte Phrase, daß der Weg nach
Indien über Konstantinopel führe und der Besitz der türkischen Meerengen ma߬
gebend sei für die Sicherheit des größten britischen Kolonialgcbietes. Obgleich
zu keiner Zeit — seitdem England in den Besitz Vorderindiens gelangt ist —
die Verbindung dieser beiden Ländergebiete über Kvnstmitinvpel geführt hat, so
war doch die obige Formel eine Art von Glaubenssatz der britischen Staats¬
männer beider Parteien. Wie die Parole eines Wachtpostens wurde sie von
dem abtretenden Teile an den einrückenden überliefert. Niemand prüfte sie auf
ihre innere Wahrheit. Bei der Vorliebe der älteren europäischen Diplomatie
für Scntcnzenwesen und Tradition ist dies weniger anffallend als der Umstand,
daß sich ein geographischer und politischer Nonsens selbst dann noch erhalten
hat, als dem Wege nach Indien durch die Eröffnung des Suezkanals bereits
eine bestimmte, unverrückbare Straße gezogen war. Ungeachtet dieser Thatsache
wurde die abgedroschene Phrase, daß Konstantinopel den Schlüssel für Indien
besitze, noch in der Konferenz von 1877 von dein damaligen Torhministerium
aufrecht erhalte». Sie führte während des türkisch-russischen Krieges zur Ent-


Grenzbvten I. 188S. 75
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0605" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195281"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341841_194675/figures/grenzboten_341841_194675_195281_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Weg nach Indien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2338" next="#ID_2339"> le auswärtige Politik Englands ist zu allen Zeiten von gewissen<lb/>
Devisen und Schlagwörtern beherrscht worden. Gegenwärtig sehen<lb/>
wir dort zwei Strömungen hervortreten, von denen jede eine<lb/>
Phrase an der Spitze ihres Programms tragt: die Politik der<lb/>
&#x201E;reinen Hände" des manchcsterlichcn Herrn Gladstone und das<lb/>
chauvinistische &#x201E;Greater Britain" des radikalen Sir Charles Dilke. Dagegen<lb/>
ist eine andre Beschwörungsformel ans dem Handbuche der englischen Diplo¬<lb/>
matie gestrichen, welche Dezennien lang für die internationalen Beziehungen des<lb/>
britischen Kabinets bestimmend war: die bekannte Phrase, daß der Weg nach<lb/>
Indien über Konstantinopel führe und der Besitz der türkischen Meerengen ma߬<lb/>
gebend sei für die Sicherheit des größten britischen Kolonialgcbietes. Obgleich<lb/>
zu keiner Zeit &#x2014; seitdem England in den Besitz Vorderindiens gelangt ist &#x2014;<lb/>
die Verbindung dieser beiden Ländergebiete über Kvnstmitinvpel geführt hat, so<lb/>
war doch die obige Formel eine Art von Glaubenssatz der britischen Staats¬<lb/>
männer beider Parteien. Wie die Parole eines Wachtpostens wurde sie von<lb/>
dem abtretenden Teile an den einrückenden überliefert. Niemand prüfte sie auf<lb/>
ihre innere Wahrheit. Bei der Vorliebe der älteren europäischen Diplomatie<lb/>
für Scntcnzenwesen und Tradition ist dies weniger anffallend als der Umstand,<lb/>
daß sich ein geographischer und politischer Nonsens selbst dann noch erhalten<lb/>
hat, als dem Wege nach Indien durch die Eröffnung des Suezkanals bereits<lb/>
eine bestimmte, unverrückbare Straße gezogen war. Ungeachtet dieser Thatsache<lb/>
wurde die abgedroschene Phrase, daß Konstantinopel den Schlüssel für Indien<lb/>
besitze, noch in der Konferenz von 1877 von dein damaligen Torhministerium<lb/>
aufrecht erhalte». Sie führte während des türkisch-russischen Krieges zur Ent-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvten I. 188S. 75</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0605] [Abbildung] Der Weg nach Indien. le auswärtige Politik Englands ist zu allen Zeiten von gewissen Devisen und Schlagwörtern beherrscht worden. Gegenwärtig sehen wir dort zwei Strömungen hervortreten, von denen jede eine Phrase an der Spitze ihres Programms tragt: die Politik der „reinen Hände" des manchcsterlichcn Herrn Gladstone und das chauvinistische „Greater Britain" des radikalen Sir Charles Dilke. Dagegen ist eine andre Beschwörungsformel ans dem Handbuche der englischen Diplo¬ matie gestrichen, welche Dezennien lang für die internationalen Beziehungen des britischen Kabinets bestimmend war: die bekannte Phrase, daß der Weg nach Indien über Konstantinopel führe und der Besitz der türkischen Meerengen ma߬ gebend sei für die Sicherheit des größten britischen Kolonialgcbietes. Obgleich zu keiner Zeit — seitdem England in den Besitz Vorderindiens gelangt ist — die Verbindung dieser beiden Ländergebiete über Kvnstmitinvpel geführt hat, so war doch die obige Formel eine Art von Glaubenssatz der britischen Staats¬ männer beider Parteien. Wie die Parole eines Wachtpostens wurde sie von dem abtretenden Teile an den einrückenden überliefert. Niemand prüfte sie auf ihre innere Wahrheit. Bei der Vorliebe der älteren europäischen Diplomatie für Scntcnzenwesen und Tradition ist dies weniger anffallend als der Umstand, daß sich ein geographischer und politischer Nonsens selbst dann noch erhalten hat, als dem Wege nach Indien durch die Eröffnung des Suezkanals bereits eine bestimmte, unverrückbare Straße gezogen war. Ungeachtet dieser Thatsache wurde die abgedroschene Phrase, daß Konstantinopel den Schlüssel für Indien besitze, noch in der Konferenz von 1877 von dein damaligen Torhministerium aufrecht erhalte». Sie führte während des türkisch-russischen Krieges zur Ent- Grenzbvten I. 188S. 75

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/605
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/605>, abgerufen am 12.11.2024.