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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
7.

n der letzten Zeit ist mehreremale Schluß der Debatte ange¬
nommen worden, während doch noch verschiedene Redner, zu
denen auch ich gehörte, zu Worte zu kommen wünschten. Daraus
geht hervor, daß sich bei der Mehrheit der verhängnisvolle
Irrtum eingenistet hat, es könne jemals genug oder gar zu viel
geredet werden! Das kann furchtbare Folgen haben, für welche ich und meine
Politischen Freunde die Verantwortlichkeit feierlich ablehnen müssen. Die im
Parlament unterdrückte Eloquenz muß und wird sich mit elementarer Gewalt
anderwärts Bahn brechen, und niemand wird in seineu vier Pfählen vor dem
Einbruch empörter Nedeflutcn sicher sein. Ich bin glücklicherweise in der Lage,
nieine Privattribüne besteigen und mir die nötige Erleichterung verschaffen zu
können. Nun müssen Sie sich aber mich gefallen lassen, daß ich, dem Beispiele
berühmter Kollegen folgend, auf Gegenstände zurückgreife, welche bereits von
der Tagesordnung verschwunden sind.

Die Beschränkung der Redefreiheit fuhrt mich naturgemäß auf das So¬
zialistengesetz, welchem der Abgeordnete Liebknecht die Mord- und sonstigen
Schandthaten der letzten Jahre zur Last legt. Der verehrte Abgeordnete ist
ohne Zweifel in der Geschichte, und namentlich in der Geschichte der Revolutionen,
viel besser bewandert als ich, und wird daher imstande sein, die in mir auf¬
getauchten Bedenken gegen jene Äußerung zu widerlegen. Wahrscheinlich existirte
z. B. in Frankreich im Jahre 1792 ein (von der reaktionären Geschichtschreibung
tückisch verschwiegenes) Svzialistengesetz, welches die Unterdrückten zu den Sep-
tcmbcrmorden zwang; wahrscheinlich war es auch ein Sozialistengesetz, welches
den tugendhaften Bürgern von Paris im Jahre 1871 das Petroleum auf¬
nötigte. Aber dergleichen Thatsachen müssen in aller Form ans Licht gestellt,
nicht so beiläufig oder, um mit Herrn Nickert zu reden, nebenher erwähnt
Werden. Geschichtsfälschungen sind ja so schwer auszurotten! Die Beispiele
liegen nahe genug. Trotz aller Protestationen glaubt die Welt noch immer,
daß Hödel und Konsorten, gleichviel, ob sie Mitglieder der sozialdemokratischen
Vereine gewesen oder nicht, ans deren Schule hervorgegangen seien, und daß
die Philanthropen, welche jetzt im freien Amerika Vorstände von Vanditen-
fachschulen sind, solange der Partei der Herren Bebel und Liebknecht angehört
haben, bis es ihrer Verrücktheit und Dummdreistigkeit in Deutschland unheimlich
Würde. Herr Liebknecht versagt dem Treiben der Dynamitriche seine "Billigung";
das ist gewiß sehr -- zart von ihm; aber daß diese Zartheit schlecht belohnt,
daß er von den Entschiedener dafür angefeindet wird, wie er sagt, kann ihn
Wohl nicht wundern. In der politischen Gegend, in welcher er sich aufhält,


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
7.

n der letzten Zeit ist mehreremale Schluß der Debatte ange¬
nommen worden, während doch noch verschiedene Redner, zu
denen auch ich gehörte, zu Worte zu kommen wünschten. Daraus
geht hervor, daß sich bei der Mehrheit der verhängnisvolle
Irrtum eingenistet hat, es könne jemals genug oder gar zu viel
geredet werden! Das kann furchtbare Folgen haben, für welche ich und meine
Politischen Freunde die Verantwortlichkeit feierlich ablehnen müssen. Die im
Parlament unterdrückte Eloquenz muß und wird sich mit elementarer Gewalt
anderwärts Bahn brechen, und niemand wird in seineu vier Pfählen vor dem
Einbruch empörter Nedeflutcn sicher sein. Ich bin glücklicherweise in der Lage,
nieine Privattribüne besteigen und mir die nötige Erleichterung verschaffen zu
können. Nun müssen Sie sich aber mich gefallen lassen, daß ich, dem Beispiele
berühmter Kollegen folgend, auf Gegenstände zurückgreife, welche bereits von
der Tagesordnung verschwunden sind.

Die Beschränkung der Redefreiheit fuhrt mich naturgemäß auf das So¬
zialistengesetz, welchem der Abgeordnete Liebknecht die Mord- und sonstigen
Schandthaten der letzten Jahre zur Last legt. Der verehrte Abgeordnete ist
ohne Zweifel in der Geschichte, und namentlich in der Geschichte der Revolutionen,
viel besser bewandert als ich, und wird daher imstande sein, die in mir auf¬
getauchten Bedenken gegen jene Äußerung zu widerlegen. Wahrscheinlich existirte
z. B. in Frankreich im Jahre 1792 ein (von der reaktionären Geschichtschreibung
tückisch verschwiegenes) Svzialistengesetz, welches die Unterdrückten zu den Sep-
tcmbcrmorden zwang; wahrscheinlich war es auch ein Sozialistengesetz, welches
den tugendhaften Bürgern von Paris im Jahre 1871 das Petroleum auf¬
nötigte. Aber dergleichen Thatsachen müssen in aller Form ans Licht gestellt,
nicht so beiläufig oder, um mit Herrn Nickert zu reden, nebenher erwähnt
Werden. Geschichtsfälschungen sind ja so schwer auszurotten! Die Beispiele
liegen nahe genug. Trotz aller Protestationen glaubt die Welt noch immer,
daß Hödel und Konsorten, gleichviel, ob sie Mitglieder der sozialdemokratischen
Vereine gewesen oder nicht, ans deren Schule hervorgegangen seien, und daß
die Philanthropen, welche jetzt im freien Amerika Vorstände von Vanditen-
fachschulen sind, solange der Partei der Herren Bebel und Liebknecht angehört
haben, bis es ihrer Verrücktheit und Dummdreistigkeit in Deutschland unheimlich
Würde. Herr Liebknecht versagt dem Treiben der Dynamitriche seine „Billigung";
das ist gewiß sehr — zart von ihm; aber daß diese Zartheit schlecht belohnt,
daß er von den Entschiedener dafür angefeindet wird, wie er sagt, kann ihn
Wohl nicht wundern. In der politischen Gegend, in welcher er sich aufhält,


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[0483] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. 7. n der letzten Zeit ist mehreremale Schluß der Debatte ange¬ nommen worden, während doch noch verschiedene Redner, zu denen auch ich gehörte, zu Worte zu kommen wünschten. Daraus geht hervor, daß sich bei der Mehrheit der verhängnisvolle Irrtum eingenistet hat, es könne jemals genug oder gar zu viel geredet werden! Das kann furchtbare Folgen haben, für welche ich und meine Politischen Freunde die Verantwortlichkeit feierlich ablehnen müssen. Die im Parlament unterdrückte Eloquenz muß und wird sich mit elementarer Gewalt anderwärts Bahn brechen, und niemand wird in seineu vier Pfählen vor dem Einbruch empörter Nedeflutcn sicher sein. Ich bin glücklicherweise in der Lage, nieine Privattribüne besteigen und mir die nötige Erleichterung verschaffen zu können. Nun müssen Sie sich aber mich gefallen lassen, daß ich, dem Beispiele berühmter Kollegen folgend, auf Gegenstände zurückgreife, welche bereits von der Tagesordnung verschwunden sind. Die Beschränkung der Redefreiheit fuhrt mich naturgemäß auf das So¬ zialistengesetz, welchem der Abgeordnete Liebknecht die Mord- und sonstigen Schandthaten der letzten Jahre zur Last legt. Der verehrte Abgeordnete ist ohne Zweifel in der Geschichte, und namentlich in der Geschichte der Revolutionen, viel besser bewandert als ich, und wird daher imstande sein, die in mir auf¬ getauchten Bedenken gegen jene Äußerung zu widerlegen. Wahrscheinlich existirte z. B. in Frankreich im Jahre 1792 ein (von der reaktionären Geschichtschreibung tückisch verschwiegenes) Svzialistengesetz, welches die Unterdrückten zu den Sep- tcmbcrmorden zwang; wahrscheinlich war es auch ein Sozialistengesetz, welches den tugendhaften Bürgern von Paris im Jahre 1871 das Petroleum auf¬ nötigte. Aber dergleichen Thatsachen müssen in aller Form ans Licht gestellt, nicht so beiläufig oder, um mit Herrn Nickert zu reden, nebenher erwähnt Werden. Geschichtsfälschungen sind ja so schwer auszurotten! Die Beispiele liegen nahe genug. Trotz aller Protestationen glaubt die Welt noch immer, daß Hödel und Konsorten, gleichviel, ob sie Mitglieder der sozialdemokratischen Vereine gewesen oder nicht, ans deren Schule hervorgegangen seien, und daß die Philanthropen, welche jetzt im freien Amerika Vorstände von Vanditen- fachschulen sind, solange der Partei der Herren Bebel und Liebknecht angehört haben, bis es ihrer Verrücktheit und Dummdreistigkeit in Deutschland unheimlich Würde. Herr Liebknecht versagt dem Treiben der Dynamitriche seine „Billigung"; das ist gewiß sehr — zart von ihm; aber daß diese Zartheit schlecht belohnt, daß er von den Entschiedener dafür angefeindet wird, wie er sagt, kann ihn Wohl nicht wundern. In der politischen Gegend, in welcher er sich aufhält,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/483>, abgerufen am 12.11.2024.